Italienische Behörden weisen dem Schiff nach der Rettung den über 600 Seemeilen entfernten Hafen in Genua zu

In der Nacht vom 29. auf den 30. Mai 2024 informierte die Initiative Alarm-Phone die zuständigen Behörden und das Rettungsschiff SEA-EYE 4 über einen Seenotfall in der maltesischen Such- und Rettungszone. Gegen 2 Uhr erreichte die Besatzung der SEA-EYE 4 das in Seenot geratene Schlauchboot und evakuierte die 51 Insassen.

„Unmittelbar nach Ankunft auf dem Schiff  waren die meisten der geretteten Menschen sehr erschöpft, unterkühlt und litten an Seekrankheit. Inzwischen hat sich ihr Zustand deutlich gebessert und alle Geretteten befinden sich zumindest physisch in stabiler und relativ guter Verfassung”, erklärt Dr. Daniela Klein, Bordärztin auf der SEA-EYE 4 für German Doctors e.V.

Julie Schweickert, Einsatzleiterin an Bord der SEA-EYE 4, betont: „Wir fanden ein überfülltes Schlauchboot vor, das von den Wellen hin und her getrieben wurde. Die Rettung verlief ohne Probleme und wir sind nun mit den 51 Überlebenden auf dem Weg nach Genua im Nordwesten Italiens. Dort werden wir voraussichtlich am Sonntag ankommen – das sind fast vier Tage, um einen weit entfernten Hafen zu erreichen. Obwohl es in Süditalien genug sichere Häfen gibt, die in der Lage sind, Menschen auf der Flucht aufzunehmen, müssen wir die Such- und Rettungszone verlassen und können nicht auf weitere Notfälle reagieren.”

Die italienischen Behörden weisen den zivilen Seenotrettungsschiffen immer wieder Häfen mit langen Anfahrtszeiten zu.  Nachdem die SEA-EYE 4 am 20. Mai zuletzt 52 Menschen aus Seenot gerettet hatte, musste das Schiff Ravenna in der Region Emilia-Romagna ansteuern. Der Hafen lag rund 900 Seemeilen vom Einsatzort entfernt.

Das Seenotrettungsschiff brachte die Überlebenden in Ravenna (Italien) an Land

Die SEA-EYE 4 hat am Samstag, den 25. Mai 2024, den Hafen von Ravenna verlassen und kehrt wieder in ihr Einsatzgebiet im zentralen Mittelmeer zurück. Am selben Tag hatte die Besatzung 52 Menschen, die sie am Pfingstmontag aus Seenot gerettet hatte, auf dem italienischen Festland in Sicherheit gebracht. Bei dem Einsatz war die SEA-EYE 4 einem Notruf des Seenotrettungsschiffs MARE*GO gefolgt, das ein seeuntüchtiges und überfülltes Fiberglasboot entdeckt hatte. Nach der Rettung wiesen die italienischen Behörden der SEA-EYE 4 den 900 Seemeilen entfernten Hafen von Ravenna in der Region Emilia-Romagna zu.

Wir haben auf der SEA-EYE 4 die Kapazität, deutlich mehr Menschen in Not zu helfen. Aber durch das Piantedosi-Dekret werden wir unter der Androhung von Strafen gezwungen, das Einsatzgebiet zu verlassen und einen weit entfernten Hafen anzusteuern. Trotz aller Hürden werden wir nicht aufhören, Menschenleben zu retten: Daher ist die SEA-EYE 4 sofort wieder in den Einsatz zurückgekehrt“, erklärt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V.

Das sogenannte Piantedosi-Dekret erschwert die Arbeit der zivilen Seenotrettung massiv. Es schreibt den Rettungsschiffen beispielsweise vor, nach einem Einsatz direkt einen von den Behörden vorgeschriebenen Hafen anzufahren. In der Vergangenheit wurde die SEA-EYE 4 auch deshalb festgesetzt, weil die Besatzung trotz der Zuweisung eines Hafens weitere Menschen aus Seenot rettete. Verstöße werden mit Geldstrafen und Festsetzungen geahndet. Das Dekret widerspricht dem internationalen Seerecht, das Schiffe grundsätzlich verpflichtet, Menschen in Seenot zu helfen.

Seenotrettungsschiff MARE*GO setzte den Notruf für den Einsatz ab

Das Seenotrettungsschiff SEA-EYE 4 hat am Montagabend (20. Mai 2024) 52 Menschen im zentralen Mittelmeer gerettet. Zwei Personen mussten medizinisch notversorgt werden. Der Einsatz ereignete sich in der maltesischen Such- und Rettungszone.

Die SEA-EYE 4 erhielt am Montagnachmittag einen Notruf des Seenotrettungsschiffs MARE*GO der Zusammenland gUG, welches das seeuntüchtige und überfüllte Fiberglasboot gefunden hatte. Die MARE*GO konnte die Insassen mit Rettungswesten ausrüsten und das Boot stabilisieren. Da sich das Wetter zu verschlechtern drohte, rief sie die SEA-EYE 4 zu Hilfe, die nach etwa zweistündiger Fahrt am Einsatzort eintraf. Bei ihrer Ankunft war das Boot nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft einen sicheren Hafen zu erreichen. Gegen 22:30 Uhr hatte die SEA-EYE 4 den Einsatz erfolgreich beendet und alle Menschen evakuiert.

„Als wir ankamen, fanden wir das Boot überfüllt und ungeeignet für die Überfahrt über das Mittelmeer vor. An Bord waren 52 Menschen, die meisten von ihnen aus Syrien. Unser schnelles Eintreffen am Einsatzort war entscheidend, da sich die Wetterbedingungen in der Nacht deutlich verschlechterten. Obwohl wir schutzbedürftige Menschen an Bord haben, die jetzt einen sicheren Ort brauchen, wurde uns Ravenna als Hafen zugewiesen – das bedeutet für die Überlebenden fünf weitere Tage auf dem Mittelmeer, bevor wir endlich anlegen dürfen“, sagt Julie Schweickert, Einsatzleiterin an Bord der SEA-EYE 4.

Von den 52 geretteten Personen waren zwei aufgrund starker Schmerzen zunächst nicht in der Lage, selbstständig an Bord zu gelangen und mussten mittels Rettungssitz aus dem Rettungsboot gehievt werden; der anfängliche Verdacht auf Kopf- bzw. Wirbelsäulenverletzung hat sich bei der Untersuchung im Bordhospital glücklicherweise nicht bestätigt, und unter Schmerzmedikation besserte sich ihr Zustand im Verlauf. Auch mehrere weitere Patient*innen klagen über schmerzhafte Prellungen, die sie sich auf der unruhigen Überfahrt im überfüllten Boot zugezogen haben. Aufgrund des schlechten Wetters und hoher Wellen leiden viele der Geretteten zudem unter Seekrankheit. Bei den bislang durchgeführten Gesundheitschecks, die wir im Lauf des Tages abschließen werden, zeigten sich erfreulicherweise keine weiteren ernsthaften Erkrankungen“, ergänzt Dr. Daniela Klein, Bordärztin auf der SEA-EYE 4 für German Doctors e.V.

Für die Ausschiffung haben die italienischen Behörden der SEA-EYE 4 den rund 900 Seemeilen entfernten Hafen von Ravenna in der Region Emilia-Romagna zugewiesen. Das Seenotrettungsschiff wird dort voraussichtlich am Samstag eintreffen.

Im laufenden Verfahren wurden die Vorwürfe zur Festsetzung als nicht erwiesen eingestuft

Am 14. Mai 2024 ist die SEA-EYE 4 aus Tarent (Italien) in den Einsatz aufgebrochen. Zuvor hatten die italienischen Behörden das Rettungsschiff für 60 Tage festgesetzt. Das ist die bisher längste Verwaltungshaft gegen ein Seenotrettungsschiff, die aufgrund des sogenannten Piantedosi-Dekrets verhängt wurde. Sea-Eye reichte dagegen Klage ein. Im laufenden Verfahren wurden nach einer ersten mündlichen Verhandlung die Vorwürfe, die Besatzung der SEA-EYE 4 habe die Anweisungen der sogenannten libyschen Küstenwache nicht befolgt, vom zuständigen Richter als nicht erwiesen eingestuft. Die endgültige Entscheidung im Hauptverfahren steht noch aus.

„Dass der zuständige Richter die Vorwürfe, die zu unserer Festsetzung geführt haben, als nicht erwiesen ansieht, zeigt, dass es sich um eine politisch motivierte Maßnahme ohne rechtliche Grundlage handelt. Trotz aller Erschwernisse, die durch die Politik der italienischen Regierung verursacht werden, nehmen wir unsere humanitäre Verantwortung weiter wahr – vor allem dank der tatkräftigen Unterstützung, die wir tagtäglich von privaten und institutionellen Spender*innen sowie Ehren – und Hauptamtlichen an Land und an Bord erhalten!“, betont Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V.

Daniela Klein, Einsatzärztin von German Doctors und zum fünften Mal Teil der Crew auf der SEA-EYE 4, ergänzt: „Seit meinem ersten Einsatz 2021 hat sich die Situation für Menschen, die vor Krieg, Folter, Armut und Vergewaltigung fliehen, nicht verbessert, sondern im Gegenteil erheblich verschärft. Immer häufiger kommt es zu dramatischen Rettungseinsätzen, die zivilen Seenotretter*innen werden mittels behördlicher Maßnahmen in ihrer Tätigkeit massiv eingeschränkt und weiterhin ertrinken Menschen auf dem Mittelmeer. Mein Antrieb und meine Motivation sind daher unverändert: dieser beschämenden und empörenden Politik etwas entgegenzusetzen und als Mitglied der Crew zu helfen, geflüchtete Menschen in Seenot vor dem Ertrinken zu retten und ihnen medizinische Hilfe zukommen zu lassen.“

Das Anfang 2023 eingeführte Piantedosi-Dekret erschwert die Arbeit der zivilen Seenotrettung massiv. Beispielsweise schreibt es Rettungsschiffen vor, nach einem Einsatz direkt einen vorgegebenen Hafen anzusteuern und keinem weiteren Notruf zu folgen. Angebliche Zuwiderhandlungen werden mit Bußgeldern und Festsetzungen sanktioniert. Als Begründung für die Festsetzung der SEA-EYE 4 im März 2024 führten die italienischen Behörden an, dass das Schiff am 7. März den Anweisungen der sogenannten libyschen Küstenwache, die mit Waffen auf das Einsatzboot zielte, nicht Folge leistete und Schutzsuchende nicht an diese übergab. Die SEA-EYE 4 hatte bei dem Einsatz insgesamt 84 Menschen aus Seenot gerettet. Erst im Februar dieses Jahres hatte das oberste Berufungsgericht Italiens die Übergabe von Menschen an die sogenannte libysche Küstenwache als Straftat eingestuft, da das Bürgerkriegsland Libyen aufgrund schwerer Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Sklaverei, Vergewaltigungen und willkürlichen Hinrichtungen kein sicherer Ort sei.

Das Dekret hatte bereits die Festsetzung zahlreicher Seenotrettungsschiffe zur Folge. Gleichzeitig sind allein 2024 laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bislang über 730 Menschen im Mittelmeer ertrunken oder verschwunden.