Am 26. Oktober 2024 feiert eine umstrittene Organisation Geburtstag: Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache wird 20 Jahre alt – das sind 20 Jahre des Wegschauens bei Menschenrechtsverletzungen und 20 Jahre der Migrationsabwehr ohne Rücksicht auf Grundrechte. Für uns also weder ein Grund zum Gratulieren noch zum Feiern. Was die Gründung von Frontex im Jahr 2004 für Schutzsuchende bedeutete und wie sich die Ziele und Schwerpunkte der Agentur in den vergangenen zwei Jahrzehnten verschoben haben – darüber haben wir mit dem Frontex-Experten Matthias Monroy gesprochen.
Was war 2004 die Motivation der EU, Frontex zu gründen?
Die Gründung von Frontex hängt vor allem mit der Entscheidung zusammen, im Rahmen des Schengener Abkommens die Kontrollen an den EU-Binnengrenzen abzuschaffen. In mehreren Fünfjahresprogrammen und schließlich dem Vertrag von Lissabon wurde beschlossen, den Schutz der EU-Außengrenzen zu verstärken und innerhalb der Europäischen Union in Sicherheitsfragen enger zusammenzuarbeiten.
Mittlerweile sind zwei Jahrzehnte vergangen. Wie haben sich die Ziele in dieser Zeit verändert?
Man könnte verkürzt sagen, Frontex hat sich verselbständigt. Ursprünglich sollten die ausführenden Organe weiterhin die Mitgliedstaaten sein, zum Beispiel mit ihren Küstenwachen oder zuständigen Behörden an Landgrenzen. Inzwischen mutiert Frontex aber zu einer Grenzpolizei, die eigenes bewaffnetes und uniformiertes Personal hat, das von Warschau aus kommandiert wird. 2016 wurde die Frontex-Verordnungen dahingehend geändert, dass die Agentur eigene Ausrüstung anschaffen kann. Mit einer weiteren Änderung 2019 begann die Agentur mit der Rekrutierung von eigenem Personal – und damit kann sie unabhängig von den Mitgliedstaaten agieren. Wobei auch diese Frontex-Grenztruppen weiterhin, um an bestimmten Orten aktiv werden zu können, von den betreffenden Staaten eingeladen werden müssen. Dazu kann auch die EU-Kommission an die Staaten herantreten und sie bitten, eine Einladung auszusprechen.
Welche Faktoren haben diese Entwicklung befördert?
Ein Ereignis, das die Entwicklung von Frontex entscheidend geprägt hat, war die Reaktion auf den Sommer der Migration, also die Zeit ab 2014, in der viele Menschen vor allem aus Syrien nach Europa geflohen sind. Bis heute gibt es aus rechten und konservativen Kreisen die Kritik, dass Angela Merkel die Grenzen nicht geschlossen habe – was faktisch auch nicht funktioniert hätte. Die Reaktion der EU war dann aber, Frontex massiv zu stärken und die Festung Europa weiter auszubauen.
Werfen wir mal einen Blick aufs Mittelmeer: Welche konkreten Aufgaben hat Frontex hier und wie werden diese umgesetzt?
2013 gab es zwei große Schiffsunglücke vor Lampedusa, woraufhin die italienische Marine die Seenotrettungsoperation Mare Nostrum gestartet hat. In weniger als einem Jahr hat diese Mission 150.000 Menschen im Mittelmeer gerettet. Auf Druck der EU wurde Mare Nostrum aber eingestellt. Dafür ist dann Frontex mit der Mission Triton eingesprungen. Diese war aber nie auf Seenotrettung ausgelegt, sondern auf Grenzschutz. Inzwischen hat Frontex seine Schiffe weitgehend abgezogen und beobachtet Geflüchtete eigentlich nur noch aus der Luft. Frontex chartert Drohnen und Kleinflugzeuge von privaten Firmen, die über dem Mittelmeer fliegen – meistens operieren sie dabei in der libyschen Seenotrettungszone.
Und was passiert, wenn Frontex dort ein Boot mit Schutzsuchenden entdeckt?
Wenn Frontex Boote entdeckt, meldet die Agentur diese in der Regel an die zuständige Seenotleitstellen, darunter auch immer jene in Libyen. Auf den ersten Blick klingt das gut: Die Menschen werden gerettet und Frontex kommt seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nach. Nur: Eigentlich ist es rechtlich verboten, Schutzsuchende zurück nach Libyen zu bringen. Denn Libyen ist ein Bürgerkriegsland und den Geflüchteten drohen dort schwere Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Sklaverei und Vergewaltigung.
An dieser Stelle ist es wichtig zu wissen, dass Libyen auch erst seit 2018 eine eigene Seenotleitstelle hat. Wie bereits erwähnt, gibt es für die EU-Mitgliedstaaten und auch Frontex das Erefoulment-Verbot, sie dürfen also keine Asylsuchenden nach Libyen bringen – die libyschen Behörden aber schon. Deshalb wurde Libyen ermutigt, eine Seenotrettungszone auszurufen und eine Leitstelle einzurichten. Diese kann nun von Frontex angerufen werden, wenn ihre Luftüberwachung Menschen in Seenot entdeckt. Eigentlich könnte man sagen, dass Frontex die Luftüberwachung für Libyen übernimmt, um zu verhindern, dass Menschen nach Europa kommen – ohne dass es eine offizielle Zusammenarbeit mit Libyen gibt.
Du hast vorhin gesagt, dass Frontex seine Ausrüstung und sein Personal immer weiter aufstockt. Wohin genau fließt das ganze Geld beim Ausbau der Agentur?
Frontex ist in den letzten Jahren vom Wasser in die Luft gewandert und das kostet natürlich viel Geld. Ein Viertel bis ein Drittel des Gesamtbudgets von Frontex fließt in diese Luftaufklärung. Ich habe vor zwei Jahren eine Studie dazu gemacht und da hat Frontex bereits rund 300 Millionen Euro für Drohnen und Flugzeugverträge ausgegeben. Allein die dieses Jahr erneuerten Rahmenverträge für Drohnen kosten weitere 400 Millionen.
Wie modern ist die Ausrüstung?
Frontex war immer auf dem neuesten Stand der Technik. Die Flugzeuge, die Frontex zur Grenzüberwachung einsetzt, sind mit Kameras, Infrarot und Radar ausgestattet. Außerdem können Satellitentelefone, die Geflüchtete in vielen Fällen auf den Booten haben, von Satelliten geortet werden. Diese Technik wird von Firmen bereitsgestellt und hilft vor allem bei schlechter Sicht oder in der Nacht. Und Frontex forscht nun zu so genannten hochfliegenden Plattformen, die sich autonom in der Stratosphäre bewegen können: Die Agentur hat 5 Millionen Euro für ein Forschungsprojekt mit Airbus ausgegeben, um die Lücke zwischen Flugzeugen, Drohnen und Satelliten zu schließen. So hat es jedenfalls Frontex ausgedrückt – als ob da überhaupt noch eine Lücke bestünde.
Prinzipiell ist diese Technologie ja nicht schlecht – sie könnte beispielsweise eine wichtige Ergänzung sein, um Boote in Seenot schnellstmöglich zu orten.
Das Mittelmeer ist wahrscheinlich das am besten überwachte Meer der Welt. Und natürlich könnte die Technik helfen, Menschen in Seenot schneller zu finden. Frontex reagiert immer sehr empört, wenn man ihnen vorwirft, dass sie dieses ganze Arsenal nur zur Migrationsabwehr anschaffen und einsetzen – und begründen das damit, dass sie ja eingreifen, wenn sie einen Seenotfall entdecken. Diese Notfälle werden aber nach Libyen gemeldet und eben nicht an die zivilen Rettungsschiffe. So beteiligt sich Frontex daran, dass schutzsuchende Menschen zurück in libysche Lager gebracht werden und dort schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind.
Nicht nur der Umgang mit Libyen wurde Frontex vorgeworfen. Es gab auch zahlreiche Berichte, dass die Agentur bei Push-Backs oder anderen Menschenrechtsverletzungen tatenlos zugesehen hat. Hatten diese Vorwürfe Konsequenzen?
Es wurden schon Maßnahmen ergriffen. Zum Beispiel ist 2022 der damalige Chef Fabrice Leggeri unter Druck zurückgetreten. Er hat Frontex als reine Migrationsabwehrbehörde verstanden und ist jetzt Abgeordneter der rechtsextremen Partei Rassemblement National in Frankreich. Sein Nachfolger Hans Leijtens aus den Niederlanden verfolgt zumindest öffentlich eine andere Politik. Unter ihm wurde auch das Berichtswesen geändert. Bei Frontex gibt es sogenannte Grundrechtsbeobachter*innen, die bei Operationen dabei sind. Unter Leggeri wurde keine einzige solche Stelle besetzt – mittlerweile sollten es etwa 50 Grundrechtsbeobachter*innen sein. Zum Vergleich: Frontex hat 2019 beschlossen, bis 2027 eine Ständige Reserve von 10.000 Grenzbeamt*innen aufzubauen. Die Zahlen verdeutlichen, dass Grundrechtsbeobachter*innen dabei nur einen Bruchteil ausmachen. Und sie können auch nicht eingreifen, sondern nur berichten. In der Praxis zeigen die Grundrechtsbeobachter*innen ebenfalls wenig Wirkung: In Griechenland führt die Küstenwache beispielsweise Push-Backs durch und nimmt dabei bewusst Menschenleben in Kauf – worüber ja auch die BBC dieses Jahr erst berichtet hat. Frontex ist vor Ort und könnte ihnen als internationale Organisation auf die Finger schauen. Wohlgemerkt “könnte” – denn in der Realität tun sie es nicht: Es wurde mehrfach berichtet, dass Frontex-Flugzeuge wegfliegen, um eben nicht Zeuge solcher Praktiken zu werden. Es wird also einfach weiter weggeschaut.
Diese Grundrechtsbeobachter*innen sind selbst Teil von Frontex – und damit nicht parteilos. Gibt es eine externe Überwachungsinstanz für Frontex?
Bei Frontex fehlen definitiv unabhängige Beobachter*innen, die Skandale aufdecken und auch Einfluss darauf haben, was mit ihren Berichten passiert. Diese Rolle übernehmen derzeit eigentlich nur Journalist*innen und Menschenrechtsorganisationen. Sie sind im Moment die einzigen, die dafür sorgen, dass nach diesen Berichten, die sie häufig mithilfe von Informationsfreiheitsgesetzen anfordern, auch etwas passiert. Je weniger Kontrollmechanismen es für Frontex gibt, desto wichtiger ist die Arbeit, die Aktivist*innen und die Medien machen, weil das eigentlich die einzige Möglichkeit ist, Frontex irgendwie in die Schranken zu weisen. Die öffentliche Berichterstattung hat beispielsweise auch erst zum Rücktritt von Fabrice Leggeri geführt.
Frontex ist eine europäische staatliche Agentur. Da muss die EU doch zumindest Kontrollmöglichkeiten haben?
Das funktioniert nicht wie wir das etwa bei der Bundespolizei kennen, der in Deutschland das Innenministerium Anweisungen erteilen kann. Es gibt keine einzige Stelle in der EU, die Frontex solche Weisungen geben darf. Das liegt daran, dass die EU kein eigener Staat ist, sondern eine Gesamtorganisation der Mitgliedstaaten. Dadurch haben wir jetzt eine Behörde, die sich immer mehr verselbständigt. Das Einzige, was die Mitgliedstaaten tun können, ist Druck auszuüben – zum Beispiel, indem sie den Direktor absetzen. Auch das EU-Parlament hat gewissen Einfluss und kann etwa dem Haushalt nicht zustimmen. Aber das war bislang immer nur ein symbolischer Fingerzeig.
Daneben gibt es noch den Europäischen Gerichtshof und den Menschenrechtsgerichtshof des Europarates, die überprüfen, ob Frontex EU-Recht und Menschenrechte einhält. Die dort verhandelten Klagen sind wichtig. Aber sie dauern meistens Jahre und gehen auch nicht immer gut aus.
Was sind die Pläne von Frontex für die nächsten Jahre?
Ursula von der Leyen hat angekündigt, dass sie die Ständige Reserve, also die neue Grenztruppe von Frontex, auf 30.000 Beamt*innen verdreifachen will. Nächstes Jahr könnte das Jahresbudget von Frontex die Milliardengrenze überschreiten. Frontex wird auch mehr eigene Ausrüstung bekommen. Anvisiert ist außerdem, dass Frontex zunehmend außerhalb der EU zum Einsatz kommt.
Moment, eine europäische Grenzschutzagentur außerhalb der EU-Grenzen?
Bei der Gründung war Frontex eigentlich darauf ausgelegt, nur in den EU-Mitgliedsstaaten eingesetzt zu werden. Seit 2016 kann Frontex aber Personal in benachbarte Drittstaaten entsenden. Geregelt wird das über Statusabkommen, bislang gibt es diese mit Albanien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina sowie Serbien. Seit 2019 darf Frontex auch mit nicht-benachbarten Ländern wie dem Kosovo solche Abkommen abschließen. Die EU-Kommission bemüht sich gerade auch um Verträge mit afrikanischen Ländern wie dem Senegal und Mauretanien. Die Verhandlungen erweisen sich jedoch als schwierig, denn die Regierungen kennen ihren Preis und wissen, was es für die EU bedeutet, wenn Frontex vor Ort tätig werden dürfte. Neben den Statusabkommen gibt es auch diverse Arbeitsabkommen, beispielsweise für den Austausch von Daten.
Glaubst du, dass eine Organisation wie Frontex reformiert werden kann?
Auf keinen Fall ist Frontex reformierbar und sollte deshalb abgeschafft werden. Auch wenn die einzelnen Staaten Migration in irgendeiner Form handhaben müssen – was sie ja bereits mit verschiedenen Behörden und Instanzen tun – brauchen wir keine Organisation, deren primäres Ziel die Abwehr von Migration ist und die dafür sogar Menschenrechtsverletzungen in Kauf nimmt. Zudem ist der Ansatz, Menschen an den Grenzen an der irregulären Einreise zu hindern, völlig falsch, solange das die einzige Möglichkeit ist, in einem Land in Europa Asyl zu beantragen.
Was sind deine Forderungen an die EU in Bezug auf Frontex?
Das, was jetzt die zivilen Seenotrettungsorganisationen machen, sollten die Mitgliedstaaten übernehmen – nämlich dafür zu sorgen, dass keine Menschen im Mittelmeer sterben. Das sollte nicht die Aufgabe von Vereinen sein, die sich über Spenden finanzieren, sondern eine staatliche Aufgabe. Oder noch besser: Die Politik würde so geändert, dass die Menschen gar nicht mehr fliehen müssen. Dann bräuchten wir auch keine Seenotrettung.
Über Matthias Monroy
Matthias Monroy hat viele Jahre im Deutschen Bundestag für einen Abgeordneten zum Thema gearbeitet. Heute ist er Redakteur im Politikressort der Tageszeitung Neues Deutschland. Seine Schwerpunkte sind Polizei, Geheimdienste und Militär in Deutschland und der EU sowie neue Anwendungen für Überwachung und Kontrolle.
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