Zukünftige Rettungseinsätze gefährdet durch gestiegene Preise bei gleichzeitigem Spendeneinbruch

Am 16.09.2022 erreichte die SEA-EYE 4 mit 129 geflüchteten Menschen, darunter 48 unbegleitete Minderjährige, Tarent. Der Hafen war dem Rettungsschiff am Donnerstag zugewiesen worden. Am Nachmittag konnten die ersten Menschen, von denen mehr als die Hälfte bereits 14 Tage an Bord waren, das Rettungsschiff verlassen.

Während der Rettungsmission suchte die Crew nach zwei Seenotfällen in der maltesischen Such- und Rettungszone und erhielt in beiden Fällen keine Unterstützung von der zuständigen Rettungsleitstelle in Malta. Einmal, als sich die Crew telefonisch nach Informationen erkundigen wollte, legte die Rettungsleitstelle einfach auf.

Die derzeitige wirtschaftliche und politische Lage hat in diesem Jahr bei Sea-Eye e. V. zu einem Spendenrückgang um mehr als 30 % geführt. In Zusammenhang mit den gestiegenen Preisen, insbesondere bei den Treibstoffpreisen, stehen die Finanzabteilung und die Einsatzleitung von Sea-Eye e. V. vor der schwerwiegenden Frage, ob und wann die nächsten Rettungsmissionen durchgeführt werden können. Bisher konnte Sea-Eye e. V. in diesem Jahr trotz Spendeneinbruch fünf Rettungseinsätze durchführen und damit über 800 Menschenleben retten.

Auch die humanitären Organisationen sind mit stark angestiegenen Kosten konfrontiert. Bei einem gleichzeitigen Spendenrückgang sind das zwei wesentliche und bedrohliche Faktoren, die unsere weiteren Einsätze gefährden. Dabei sind unsere Einsätze auch im Herbst und Winter wichtig, weil die Schlechtwetterperioden zunehmen. Weniger Rettungsschiffe führen dazu, dass die Flucht über das Mittelmeer gefährlicher wird, denn die Fluchtversuche aus Libyen finden dennoch statt“, sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e. V. In 2022 sind durchschnittlich jeden Tag vier Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer gestorben.

Die Parteien der Ampelkoalition hatten in ihrem Koalitionsvertrag versprochen, dass man für eine Verbesserung der Situation Sorge tragen würde.

Bisher sind das nur schöne Worte, die niemandem helfen. Wir brauchen keine Würdigungen und wohlklingenden Versprechungen. Die Seenotrettungsorganisationen brauchen endlich substanzielle Unterstützung, um weiter Menschenleben retten zu können, und politische Kurskorrekturen, die dazu beitragen, dass unsere Arbeit überflüssig wird“, kritisiert Isler.

Um den Rettungsbetrieb in den kommenden Monaten aufrechterhalten zu können, hat Sea-Eye zusammen mit Unterstützer*innen, darunter United4Rescue – Gemeinsam Retten e. V. und #LeaveNoOneBehind eine Spendenverdopplungskampagne gestartet: http://sea-eye4.betterplace.org/.

Die Behörden schikanieren die Hilfsorganisationen und erhöhen den Druck auch finanziell. Das passiert, weil man das Ertrinkenlassen von Menschen zur Abschreckung nutzen will. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Strategie aufgeht. Es wird eine Mauer aus Toten gebaut und kaum jemand interessiert sich dafür. Das ist so grausam, das darf auch in schwierigen Zeiten nicht untergehen“, sagt Erik Marquardt, Mitgründer von LeaveNoOneBehind, die Sea-Eye finanziell unterstützen. Erik Marquardt ist auch Abgeordneter in der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz des Europäischen Parlaments.

82 Menschen werden vermisst

Von Sonntag bis Montag (04.-05. September) suchte die Crew des Rettungsschiffs SEA-EYE 4 nach einem Seenotfall in der maltesischen Such- und Rettungszone, der von AlarmPhone an die SEA-EYE 4 und die maltesische Rettungsleitstelle gemeldet worden war. AlarmPhone sendete mehrfach aktualisierte Koordinaten, bis die Verbindung zu den 82 Menschen abriss.

Die maltesische Rettungsleitstelle unternahm keine erkennbaren Versuche, das Boot zu finden. Die maltesische Rettungsleitstelle behauptete bei einem Telefonat gegenüber eine*r Mitarbeiter*in von AlarmPhone, dass es “keine Informationen” habe. Schließlich wurde der AlarmPhone-Mitarbeiter*in vorgeworfen, dass sie die Leitung für andere Seenotfälle besetzen würde.

Aufgrund der Größe des Suchgebietes war es der SEA-EYE 4 nicht möglich, das Boot ohne aktualisierte Koordinaten zu finden. Über den Verbleib der 82 Menschen gibt es keine Informationen. Obwohl sich der Seenotfall in der maltesischen Such- und Rettungszone ereignet hatte, bezog Malta die SEA-EYE 4 nicht in eine koordinierte Suche ein.

Nach intensiven Tagen der Suche durch unsere Crew, wissen wir nichts über das Schicksal der Menschen, die in der Such- und Rettungszone eines EU-Mitgliedsstaates um Hilfe gerufen haben. Hätte Malta ein Aufklärungsflugzeug geschickt und uns in die Suche einbezogen, hätten wir die Menschen möglicherweise gefunden. Das jedenfalls hätte die maltesische Rettungsleitstelle unternommen, wenn es sich um Europäer*innen in Seenot gehandelt hätte“, sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e. V.

Bereits am 02. September rettete die Crew der SEA-EYE 4 76 Menschen aus einem kleinen, doppelstöckigen Holzboot aus Seenot. Der Seenotfall war zuvor durch die NADIR der Organisation Resqship gemeldet worden. Unter den geretteten Menschen sind 17 unbegleitete Minderjährige und ein Kind. Das medizinische Team musste in den folgenden Tagen mehrere Patient*innen im Bordhospital versorgen.

Am Dienstag, 06. September, verschlechterte sich der Zustand eines Patienten massiv. Er litt an starken Schmerzen im Unterleib und hatte Fieber. Die SEA-EYE 4 forderte daraufhin bei Malta eine medizinische Evakuierung an, worauf der Patient mit einem Helikopter zur medizinischen Behandlung an Land gebracht wurde.

Gestern Abend (06. September) übernahm die SEA-EYE 4 von der RISE ABOVE 54 zuvor gerettete Menschen, weil sie für deren Versorgung besser ausgerüstet ist.

Die zusätzlichen 54 Flüchtlinge – darunter 30 Minderjährige – waren sehr geschwächt und dehydriert, als sie an Bord der RISE ABOVE genommen wurden. Drei Tage lang hatten sie ohne Essen und Trinken auf ihrem Boot ausgeharrt. Inzwischen sind sie alle stabilisiert. Da sie jung sind und keiner von ihnen eine chronische Erkrankung hat, sind wir zuversichtlich, dass die neuen Gäste zumindest körperlich stabil bleiben“, erklärt Dr. Angelika Leist, German Doctors-Einsatzärztin und Schiffsärztin an Bord der Sea-Eye 4.

German Doctors stellt regelmäßig ehrenamtliche Ärzt*innen für die Rettungsmissionen der SEA-EYE 4 und beteiligt sich finanziell am Betrieb des Bordhospitals, in dem ein dreiköpfiges Team bei Rettungseinsätzen nicht selten dutzende gerettete Menschen behandeln muss.   Nun befinden sich 129 Menschen an Bord der SEA-EYE 4. Unter ihnen sind 48 Minderjährige, von denen 47 unbegleitet sind. Die Crew hat in Italien um einen sicheren Hafen gebeten.

An Bord der SEA-EYE 4 erzählte ein junger Mann aus Bangladesch unserem Crewmitglied Fiona, weshalb er sein Land verlassen hat und welche Gefahren ihm in Libyen begegnet sind. Die folgenden Schilderungen beruhen auf zwei Gesprächen, die mit Audioaufnahmen und Notizen dokumentiert wurden.

Ich wurde in Dhaka, Bangladesch, in einer 5-köpfigen Familie geboren. Ich bin allein hierhergekommen.

Ich habe viele Probleme zu Hause und ich denke ständig daran… Das Leben in Bangladesch ist schwierig. Wenn du arm geboren wirst, bleibst du arm, auch wenn du hart arbeitest. Ich bin für meine Familie verantwortlich, da ich der einzige Sohn bin, ich muss sie versorgen und mich um sie kümmern.

Meine Eltern können beide nicht mehr arbeiten. Meine Mutter hatte einen Job in einer Bekleidungsfabrik, aber sie wurde sehr krank, und mein Vater ist zu alt, um zu arbeiten. Er ist ein guter Mann und ein guter Landwirt, aber die Arbeit wird zu schwer für ihn.

Meine beiden Schwestern würden gerne studieren, denn in Bangladesch kann man mit einem Schulabschluss eine gute Arbeit finden. Ich will nicht, dass sie auf den Feldern arbeiten… aber wir haben kein Geld, wir können nicht einmal richtig essen. Zwei Säcke Reis kosten die Hälfte von dem, was ich in einem Monat verdiene.

Zeichnung

Seit Corona hat sich die Lage in Bangladesch verschlechtert, auch der Klimawandel macht uns zu schaffen. Meine Mutter riet mir, nach Libyen zu gehen, weil sie glaubte, dass ich dort gutes Geld verdienen und einen guten Job mit einem guten Gehalt bekommen könnte. Sie verkaufte den Goldschmuck der Familie, um mein Flugticket nach Libyen zu bezahlen.

Ich weiß nicht, wie viel meine Mutter bezahlt hat, aber ich habe gehört, dass einige Leute 300.000 Taka (3.000 Dollar) an Schmuggler*innen gezahlt haben. Wir reisten über Dubai. Als wir am Flughafen in Libyen ankamen, riefen wir eine Telefonnummer an, die uns in Bangladesch gegeben worden war, dann kamen einige Männer und brachten uns in ein Lagerhaus. Man sagte uns, wir würden dort für 200 Dinar pro Monat schlafen.

Meine Mutter hat sich geirrt, Libyen ist ein gefährlicher Ort… etwa 95 % schlechte Menschen und 5 % gute. Ich habe dort ein Jahr verbracht, bevor ich mit dem Boot übersetzte. Ich arbeitete in der Hauswirtschaft mit acht Bangladescher*innen, drei Sudanes*innen und vier Ägypter*innen. Unser Chef war ein böser Mann. Er wollte die Löhne nicht zahlen. Wenn man sich weigerte zu arbeiten, schlug er einen oder drohte, einen mit einer Pistole zu töten. Ich arbeitete fünf Monate lang, ohne bezahlt zu werden. Ursprünglich waren mir 1.200 Dinar pro Monat versprochen worden.

Papierboot

Nach einiger Zeit sprachen ein paar meiner Freunde davon ein kleines Boot mit ein paar Leuten, etwa zwanzig, zu besorgen und nach Italien zu fahren. Über einen Taxifahrer, einen guten Mann, hatten wir eine Verbindung zur „libyschen Mafia“, um ein Boot zu kaufen. Das Boot würde zusammen mit Satellitentelefon, GPS und Schwimmwesten 12.000 Dinar kosten. Es dauerte zwei Monate, bis wir das Geld zusammen hatten.

Wir fuhren am 5. Mai um 22 Uhr los, um die Küstenwache zu umgehen.

Ein paar Stunden später, gegen 2 Uhr morgens, drang plötzlich Wasser ein. Das Boot war defekt, es hatte ein Loch, wir versuchten, es so gut wie möglich zu schließen, aber das Wasser war stärker.

Dann sahen wir die Lichter eines großen Frachtschiffs in etwa 2 km Entfernung. Wir riefen sie um Hilfe. Der Kapitän des Frachters kontaktierte die italienische Küstenwache, aber die war 445 km entfernt. Wir riefen mehrere Schiffe zu Hilfe, aber niemand antwortete. Ich habe um unser Leben gebetet. Schließlich schaltete sich die BSG Bahamas ein und teilte uns mit, dass das Schiff Sea-Eye 4 kommen würde, um uns zu retten.

BSG BAHAMAS

Durch Allahs Gnade bin ich am Leben, aber ich bin traurig, weil ich meine Familie vermisse. Ich habe sie seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Mein Telefon ist ins Wasser gefallen und seit ich Libyen verlassen habe, habe ich keinen Kontakt mehr zu ihnen.

Das ist mein Leben. Meine Familie ist mein Traum. Ich möchte ein großes Haus für sie kaufen, eine große Hochzeit für meine Schwestern. Ich wünsche mir eine Frau und viele Kinder.