Von Melanie M. Klimmer, 16. Februar 2022

Der deutsche Arzt Jakob Willenborg war Mitte Dezember 2021 Teil des «Medical Teams» an Bord des Rettungsschiffes «Sea-Eye 4» und behandelte im Bordhospital auch mehrere schwangere Frauen. In einem Interview mit der Journalistin Melanie Klimmer erzählt er von Frauen auf der Flucht und den emotional und medizinisch herausfordernden Situationen.

Melanie M. Klimmer: In den libyschen Detention Camps bekommen Internierte oft kaum Nahrung, auch die Kinder nicht. Berichte von Folter, Nahrungsentzug, Vergewaltigungen, körperlicher Misshandlung dringen regelmäßig an die Öffentlichkeit. Wenn diese Menschen dann über das Meer fliehen, hungern und dürsten sie wieder, sind auf dem offenen Meer Wind und Wetter ausgesetzt, dehydrieren, kühlen aus. Wie haben Sie den Allgemeinzustand der Geflüchteten nach ihrer Rettung wahrgenommen?

Jakob Willenborg: Die von uns geretteten Menschen sind, mit Ausnahme von drei Älteren und den kleineren Kindern, fast alle jung und zwischen 15 und 35 Jahre alt. Es war für mich erschreckend zu sehen, in welch reduzierten Allgemeinzustand 70-80 Prozent von ihnen waren. Einige mussten wir über Nacht im Hospital behalten und dort überwachen und behandeln – junge Menschen mit stark reduziertem Immunsystem! Das ist in diesem Alter sonst äußerst selten und unter Normalbedingungen wären sie gesund; sie bräuchten keinen Arzt. Viele der Geflüchteten hatten Pneumonien. Auch ein Tbc-Verdachtsfall war dabei. Dann die lange Immobilisation in diesen Booten – ein kleiner Junge konnte tagelang nicht mehr gehen.

Jakob: Arzt an Bord der SEA-EYE 4

Aus Angst, dass das Boot kentern könnte, müssen alle tagelang ausharren und stillhalten.

In den Holzbooten können sich die Menschen tagelang nicht bewegen. Was das am Ende für Schmerzen sein müssen, kann man sich gar nicht vorstellen. Wie muss es da erst einer schwangeren Frau gehen, wenn sie lange regungslos sitzen muss und tagelang nicht liegen kann? – In Urintests bei schwangeren Frauen und auch bei Geflüchteten mit entsprechender Schmerz-Symptomatik beim Wasserlassen konnten wir den Muskelabbau sogar feststellen: In fast allen Fällen konnten wir sowohl eine Proteinurie als auch eine Ketonurie nachweisen, zwar in einem noch reversiblen Maß, es zeigt aber deutlich, was dem Körper mit einer solchen Überfahrt zugemutet wird.

Hatten Sie auch schwangere Frauen an Bord der Sea-Eye 4? 

Wir hatten sechs Schwangere an Bord. Eine Schwangerschaft hatte sich allerdings nicht bestätigt. Sowohl die junge Frau, als auch ich kamen aus einer Extrembelastung heraus. Da hatte es gleich zu Beginn ein Missverständnis – ein Kommunikationsdefizit – gegeben. Nachdem ich dann bei ihr einen Schwangerschaftstest durchgeführt hatte und dieser negativ war, war klar: Sie war nicht schwanger – oder nicht mehr. Das war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.

Mit der Extrembelastung meinen Sie den Moment der Rettung?

Ja. Die Geflüchteten waren bei uns vier Tage, in anderen Fällen noch deutlich länger, auf so einem hochseeuntauglichen Boot. Das Trinkwasser wird knapp. Sie haben nichts zu essen, leiden Hunger und Durst. Dann werden sie von uns aus diesen Schlauch- oder Holzbooten geholt und zur Sea-Eye 4 hinübergebracht. Dort müssen sie dann aus den Schnellbooten, auf das Mutterschiff hinauf. Da gibt es noch einmal Wellengang. An Bord werden sie registriert. Diejenigen, die medizinische Hilfe benötigen, werden gleich versorgt. Und da gibt es viele Sprachbarrieren und es kann auch manches durcheinanderlaufen. Es gab auch Menschen, die im Kontakt sehr ängstlich waren. Manche weinten, als diese tagelange Anspannung in lebensgefährlicher Situation endlich nachließ und sie sich sicherer fühlten.

Rettungseinsatz

Wie haben Sie die Schwangeren betreut?

Wir haben uns bei der Schwangerenversorgung an den üblichen Standards orientiert, allerdings unter den Einschränkungen an Bord, das heißt wir haben regelmäßige Blutdruck- und Blutzuckermessungen sowie Urintests durchgeführt, um die Schwangerschaft zu bestätigen und auch um zu schauen, ob eine Proteinurie vorliegt, die schlimmstenfalls auf die Entwicklung einer Präeklampsie hindeuten kann. Jede Schwangere haben wir mindestens einmal gesehen. Wenn etwas auffällig war, haben wir die Frau engmaschiger betreut. Eine Schwangere war beispielsweise aufgrund von starker Übelkeit und Bauchkrämpfen sehr dehydriert, der Venenstatus schlecht. Ich kann sagen: Alle Schwangeren, bis auf eine, befanden sich noch bei der ersten Untersuchung in einem sehr schlechten Zustand. Nur eine schwangere Frau war beschwerdefrei.

Immer wieder gibt es Berichte, dass Frauen auf der Flucht in dramatischer Weise Fehlgeburten erleiden. Wie geht man damit als Ärztin oder Arzt in der humanitären Arbeit um – auf einem Rettungsschiff zum Beispiel?

Ja, manche Frauen verlieren auf der Flucht das ungeborene Kind, manchmal schon ihr zweites. Selbstgemachte Aufnahmen geflüchteter Frauen geben darüber manchmal Aufschluss. In der Seenotrettung versuchen wir dem dann nachzugehen und die Fehlgeburt mit einem negativen Schwangerschaftstest und einem Ultraschall zu bestätigen. Leider kommen solche Fälle immer wieder vor. Diese Situationen sind dann oft dramatisch für die Frauen, die davon betroffen sind, weil sie mit starken Schmerzen, psychischer Belastung und im schlimmsten Fall mit einem sehr hohen Blutverlust einhergehen, sie erhalten dann aber oft nicht die notwendige medizinische Hilfe. Und natürlich bedeutet es ihnen auch sehr viel, ihre Kinder gesund zur Welt zu bringen.

Krankenstation der SEA-EYE 4

Für die meisten geflüchteten Frauen könnte es nichts Schlimmeres geben, als das Kind zu verlieren. Ich habe da unglaublich tiefe Verzweiflung bei einigen Frauen gesehen, die gerettet wurden. Manche leben in ständiger Angst um das Ungeborene, dass es sterben könnte.

Haben Ihnen Frauen von Fehlgeburten berichtet?

Die Frauen sprechen selten direkt darüber. Um darüber sprechen zu können, braucht es Vertrauen. Es kann dauern, bis so etwas zur Sprache kommt.

Ich stelle es mir extrem schwierig vor, das Thema überhaupt anzusprechen.

Wir gehen in unseren Gesprächen oft bewusst nicht ins Detail. Das machen wir zum einen nicht wegen der Sprachbarrieren. Zum anderen haben wir keine sichere Umgebung dafür. Wir können den geflüchteten Menschen an Bord nicht wirklich einen geschützten Raum geben, wenn Trauma-Erfahrungen reaktiviert werden sollten. So ein Schiff gibt die dafür notwendigen Rahmenbedingungen nicht her.

Für diese Gespräche braucht es erst eine Vertrauensbasis.

Und selbst wenn die Frauen Vertrauen schöpften. Für mich spielt es immer auch eine Rolle, dass wir die Möglichkeiten für eine angemessene Nachsorge an Bord einfach nicht haben. Man weiß nicht vorher, was in einer psychischen Extrembelastung, in der traumatische Erlebnisse erinnert werden, ausgelöst werden könnte. Das Einzige, was wir haben, ist dieses Krankenhaus an Bord. Wir gehen deshalb nicht zu tief in solche Berichte hinein, weil wir fürchten, die Situation an Bord nicht mehr händeln zu können. Das Hospital steht den Patient*innen immer nur für eine begrenzte Zeit zur Verfügung, weil schon nach Minuten – mit etwas Glück auch ein bisschen länger – schon ein nächster Notfall eintreffen kann.

Arzt an Bord der SEA-EYE 4

Welche Rolle spielt es, dass Sie als männlicher Arzt Hilfe anbieten?

Da ging ich von vornherein behutsam vor. Als männlicher Arzt habe ich bei den Frauen jedes Mal nachgefragt, ob es okay ist, wenn ich sie untersuche. Auch habe ich die schwangeren Frauen nie alleine untersucht, sondern immer im Beisein von mindestens einer weiblichen Person aus der Crew. Wir hatten noch die beiden Paramedics – zwei Frauen – mit an Bord und explizit angeboten, dass sie jeweils die medizinische Versorgung übernehmen. Alle Frauen haben das in diesem Fall aber nicht gewünscht und meiner ärztlichen Hilfe zugestimmt.

Was war für Sie die eindrücklichste Erfahrung während des Einsatzes?

Davon zu erfahren, was einer schwangeren Frau auf ihrer Flucht widerfahren ist, was sie durchgemacht hat – und es deutete alles darauf hin, dass sie Schreckliches erlebt hat – und dann von ihr gefragt zu werden, ob es in Europa gute Menschen gebe. Sie hat an den Menschen generell gezweifelt.

Das trifft einen ins Mark.

Sie war noch sehr jung, sehr mager. Sie hatte lange Zeit nichts mehr gegessen. Durch diese ganze, vorausgegangene Belastungssituation, dazu die Schwangerschaft und den Seegang, litt sie unter extremer Übelkeit. Mit der Zeit hatte sie Vertrauen zu uns aufgebaut und sich wohler gefühlt. Als es in unserem Hospital dann etwas ruhiger war, konnte sie zum Glück eine Nacht zur Überwachung bleiben und da auch schlafen.

In einem Bericht von Bord schilderten Sie, dass viele Geflüchtete unter gastrointestinalen Symptomen gelitten haben. Bei meinen Recherchen stieß ich auf eine Studie, die belegt, dass viele geflüchtete Frauen, die aus IS-Gefangenschaft und IS-Gewalt befreit wurden und eine «psychologische Last» («psychological burden») und eine Posttraumatischen Belastungsstörungen davontrugen, beobachtbar an spezifischen, häufiger auftretenden Symptomen leiden, dazu gehören unter anderem gastrointestinale Beschwerden, Schmerzen am ganzen Körper, Missempfindungen der Haut, schwerwiegende Herzprobleme oder Dissoziation (Rometsch-Ogioun 2018).

Sehen Sie Parallelen zu Symptomen, denen Sie an Bord der Sea-Eye 4 begegnet sind?

Ja, definitiv! Eine schwangere Frau, die zunächst unter starker Übelkeit und Bauchschmerzen litt, sehr adynam, erschöpft und psychisch extrem belastet war, entwickelte ein ausgeprägtes Brennen bei jeder einzelnen Berührung. Es war ein Brennen in allen Zehen. Ich konnte dafür aus rein medizinischer Sicht keine Erklärung finden, denn die Symptome gingen nicht mit einem sensorischen Verlust oder mit motorischen Lähmungserscheinungen einher. Die Symptome ließen aber ab dem Moment nach, als sie sich sicher wusste, nicht mehr nach Libyen zurückgeführt zu werden und sie sich psychisch stabiler fühlte. Es ging ihr plötzlich deutlich besser, sie wurde wieder agiler, vertrauter und teilweise fröhlicher. – Solche Missempfindungen würden zu dem passen, was Sie eben als mögliche posttraumatische Belastungsreaktion beschrieben haben.

Medizinische Evakuierung

Während des Einsatzes auf der Sea-Eye 4 berichteten Sie auch von häufig auftretenden, sehr starken gastrointestinalen Symptomen auch bei den schwangeren Frauen. Könnten das auch Hinweise auf eine PTBS sein?

Gastrointestinale Beschwerden traten tatsächlich häufiger auf, für die es aber kein sonographisches Korrelat gab. Manche von diesen Frauen waren in den ersten Tagen sehr apathisch. Eine Schwangere war viel gelegen. Ich musste sie immer wieder ermutigen, aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen. In der Vergangenheit hat sie unglaublich viel Leid ertragen müssen und rechnete nun mit neuem Leid. Immer wieder hatte sie Ausbrüche der Verzweiflung. – Von Apathie bis hin zu starken Ängsten und tiefer Verzweiflung habe ich an Bord alle Facetten gesehen. 

Hatten die Frauen auch Angst im Kontakt mit dem Medical Team?

Schon beim ersten Kontakt habe ich festgestellt, dass Angst und Misstrauen bestehen. Es hat gedauert, bis wir Vertrauen aufbauen konnten. Einige Frauen schienen verwundert, dass keine Gegenleistung für die medizinische Versorgung verlangt wurde. Diese strukturellen Missstände begleiten die Menschen auf ihrer gesamten Flucht.

Gesundheitsversorgung ohne Gegenleistung ist in vielen Ländern unbekannt. Auf der Flucht und ohne Zahlungsmittel kommen Frauen oft in Gefahr, für Hilfeleistungen sexuell ausgebeutet zu werden.

Für mich als Arzt war es erschreckend zu erleben, selbst unter diesen einfachsten Bedingungen auf einem Rettungsschiff, mit deutlich weniger Mitteln und Möglichkeiten als in einer Arztpraxis oder einer Klinik in Deutschland und mit noch weniger Zeit zwischendurch, die ich mir hätte nehmen können, auf eine, teils schon für mich unangenehme, übergroße Dankbarkeit zu stoßen. Der Kontakt war noch kürzer, die Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie weitaus geringer, und trotzdem war das, was ich diesen Menschen geben konnte für sie überragend viel. Die Erfahrung, dass sie für Hilfe nichts geben müssen und nichts von ihnen verlangt und erwartet wird, dass jemand ehrlich nachfragt, das schienen viele nicht zu kennen.

Medizinische Evakuierung

Warum war das unangenehm für Sie? 

Weil ich nicht mehr für sie gemacht habe, sondern weniger. Es ist einfach schrecklich zu sehen, viel weniger anbieten zu können, gleichzeitig zu sehen, dass selbst ein so banales Recht auf eine angemessene, gesundheitliche Versorgung als etwas so Außergewöhnliches erlebt wird.

Über Jahre der Flucht haben die meisten Geflüchteten keine einzige gesundheitliche Versorgung erhalten. Da kann diese «einfache» Hilfe viel bewirken. Hat es auch eine Rolle gespielt, dass es auf den Rettungsschiffen keine Privatsphäre gibt und auch nicht geben kann? War das belastend für diese Frauen?

Der Entzug der Privatsphäre spielt auch eine Rolle. Einige Frauen, die apathisch reagierten, wollten lieber liegen bleiben im Sinne von «Was soll ich anderes tun? Überall sind Menschen.» Auf einem Rettungsschiff kann es keine Privatsphäre geben. 20 andere Frauen und deren Kindern sind sie in einem Container an Bord untergebracht. Die Bedingungen könnten besser sein, ganz klar. Aber es geht nicht anders. Wichtig ist, dass diese Menschen erst einmal in Sicherheit sind.

Gab es auch die Momente, in denen Sie sich als junger Internist unsicher fühlten?

Bei einer Schwangeren war ich unsicher, ob sie nicht eine Präeklampsie entwickelte. Sie hatte sehr auffällige Symptome.

Was haben Sie dann gemacht?

Ich habe dann eine Gynäkologin auf dem Festland kontaktiert, die für solche Fälle für uns immer erreichbar war. Sie erklärte mir dann, dass eine Frau zu diesem Zeitpunkt der Schwangerschaft noch keine Präeklampsie entwickeln kann. Das habe ich dort auf dem Schiff gelernt [der Internist schmunzelt].

Wie wichtig ist Ihnen der Einsatz auf der Sea-Eye 4?

Mir sind Menschenrechts-Aktivismus, aber eben explizit auch die Seenotrettung sehr wichtig, weil es hier um die Menschen geht, die durch die globale Ungleichheit dazu gedrängt werden, sich auf eine lebensbedrohliche Reise zu begeben und dann auf dem Mittelmeer von Europa im Stich gelassen und oft dem Tod überlassen werden. Es ist dasselbe Europa, das für viele der Fluchtursachen verantwortlich ist. Mit ist aber auch wichtig, das ganze Farbenspektrum zu sehen.

Was meinen Sie damit?

Nun, es gehört zum Beispiel auch dazu zu zeigen, dass das auch sehr starke Frauen sind, denen wir da begegnen, Frauen, die unglaublich viel geleistet und zum Teil eine enorme Resilienz entwickelt haben, mit ihrer Situation umzugehen. Sie zeigen, dass eben nicht alles zerbrochen ist, sondern es da auch Momente großer Freude gibt.

An welche Situation erinnern Sie sich da?

Als Internist habe ich mit einem einfachen Ultraschallgerät im Bordhospital keine hochspezifischen Untersuchungen gemacht und auch keine Geschlechtsbestimmung am Fetus vorgenommen. Aber allein schon die Kindsbewegungen im Ultraschall zu zeigen, hat bei den schwangeren Frauen maximale Glücksgefühle ausgelöst. Und diese überschwänglichen Glücksmomente hat es auf dem Schiff eben auch gegeben. Oder dann, als sich der Zustand der Schwangeren nach zwei, drei Tagen deutlich gebessert hat und sie wieder essen und trinken konnten, sie wieder zu Kräften kamen – das waren sehr tiefgehende, schöne Erlebnisse.  

Gerettete und Crew

Das kann ich absolut nachempfinden. Das waren sehr befreiende Momente.

Ich möchte es noch einmal in aller Deutlichkeit betonen – es gibt da die andere Seite: die Seite der Kraft der Frauen, die Seite des Lebensglücks, das diese Frauen genauso empfinden, auch wenn eine Schwangerschaft auf der Flucht unglaublich belastend und schwierig sein kann. Was ich aber auch glaube ist – und das konnte ich mit den Frauen nicht eingehender besprechen –, dass es da auch eine Kraft in ihnen gibt, für dieses Leben zu kämpfen, das da in ihrem Bauch heranwächst.

Vielleicht sind sie deshalb so verzweifelt oder apathisch, wenn sie feststellen, es wartet vielleicht eine ungewisse Zukunft oder eine Rückführung nach Libyen? 

Ja. Das könnte sein.

Was wissen Sie über die medizinische Versorgung nach der Disembarkation?

Nach der Ankunft im sizilianischen Hafen von Pozzallo ist das italienische Rote Kreuz mit zwei Ärzt:innen gekommen. Sie haben den Behandlungsbedarf der Menschen gecheckt; Schwangere und alle anderen Personen, die medizinische Hilfe benötigen, sind dann in eine Hilfeeinrichtung gebracht worden. Alle anderen werden nach ihrer Registrierung auf ein Quarantäneschiff gebracht, das wieder aufs Meer hinausfährt und vor der Küste ankert.

Das löst bei den Menschen doch sicher große Angst aus, nach Libyen zurückgebracht zu werden.

Ich hoffe sehr, dass man mit ihnen darüber ausreichend kommuniziert und sie wissen, was da mit ihnen passiert.

Befindet sich auf den Quarantäneschiffen auch medizinisches Personal?

Wenn medizinische Fälle auftreten, werden Ärzt:innen hingebracht. Über die weitere Versorgung darüber hinaus kann ich jedoch keine sicheren Auskünfte geben.

Wenn die Bedingungen der Flucht permanent unsicher und strapaziös sind, kann die Hoffnung auf ein normales Leben sehr erschüttert werden. Auch deshalb kann es wichtig sein, andere Perspektiven auf das Thema zu öffnen, oder?

Klar, bei der Berichterstattung von Menschenrechtsorganisationen wird das Augenmerk oft daraufgelegt, welch unmenschliche Behandlung, welches Leid die Geflüchteten da erfahren. Das ist wichtig, um diese dauerhaften Menschenrechtsbrüche offenzulegen. Aber meiner Meinung nach schafft das auch eine Distanz und entmenschlicht die Geflüchteten oft. Das schafft eher Distanz, was ja nicht der Zweck sein kann. Diese Menschen freuen sich genauso über ein Ultraschallbild vom ungeborenen Kind wie alle anderen auch. So etwas schafft Identifikation, darüber sollte man auch in den Medien berichten!

Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch. 

Zur Person:
Jakob Willenborg ist Internist in Weiterbildung (4. Berufsjahr) aus dem Raum Köln/Bonn. Als German Doctor war er zuvor schon im humanitären Einsatz in einer abgelegenen Region auf den Philippinen. Bei der vierten Mission des Rettungsschiffes Sea-Eye 4 vom 13. bis 24. Dezember 2021 war er Teil des Medical Teams und behandelte im Bordhospital auch mehrere schwangere Frauen.


Langfassung des Interviews von Melanie M. Klimmer mit dem Internisten Jakob Willenborg. Erstveröffentlichung in Obstetrica 6 (119): 52-55, herausgegeben vom Schweizerischen Hebammenverband, Olten, Rubrik „Fokus Ausland“ unter dem Titel „Das Kind verlieren wäre das Schlimmste“ (gekürzte Fassung)

Die Autorin:

Melanie M. Klimmer, Cultural Anthropologist MD and Advocacy Anthropologist, Nurse with further education in humanitarian health care, lecturer in Clinical Sociology and Social Politics at Universities and political foundations, mediator (Johan Galtung), and since 2016 freelance Science Journalist, Human Rights reporter and Author on medical issues.

Fotos

Die Fotos sind Symbolbilder und stammen aus unterschiedlichen Einsätzen der SEA-EYE 4.

Literatur

Rometsch-Ogioun El-Sount C et al. (2018): Psychological Burden in Female, Irak Refugees Who Suffered Extreme Violence by the “Islamic State”: The Perspective of Care Providers. Front. Psychiatry 9:562. doi: 10.3389/fpsyt.2018.00562 (letzter Zugriff: 01.02.2022)

Mitte Mai 2022 waren nach Angaben des «Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge» (UNHCR) weltweit mehr als 100 Mio. Menschen auf der Flucht. Mit dem Krieg in der Ukraine hat sich deren Zahl dramatisch erhöht. Ein Bericht über die erschütternde Situation an den Außengrenzen Europas zeigt, welch großen Risiken Frauen und insbesondere Schwangere auf der Flucht ausgesetzt sind.

Ein Gastbeitrag von Melanie M. Klimmer

Auf den europäischen Mittelmeerrouten sind Stand 31. Dezember 2021 seit Beginn der Aufzeichnungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) (siehe auch https://switzerland.iom.int/de), mindestens 23’334 Menschen bei ihrem Fluchtversuch über das Mittelmeer ums Leben gekommen oder werden vermisst (jede achte Person); 755 Menschen verloren innerhalb Europas auf dem Landweg über die Alpen oder beim Passieren des Ärmelkanals ihr Leben. Die Zahlen sind minimale Schätzungen.

Hinter jedem individuellen Schicksal stehen auf dem Mittelmeer kenternde hochseeuntaugliche Holz- und Schlauchboote, die zunehmende und auf keine Konsequenzen stoßende Brutalität gegen Flüchtende bei illegalen «Push Backs» an Land und zur See und auch die fehlende medizinische Hilfe – Schicksale, von denen verzweifelte Menschen wiederholt berichten und die dokumentiert sind. Immer wieder gibt es Bilder von toten Schwangeren und Säuglingen, die bspw. am libyschen Mittelmeerstrand zurückbleiben.

Geflüchtete Frau

Zahlen über Flucht und Rettung

Unter den im Zeitraum von 2014 bis Ende 2021 registrierten Toten auf den europäischen Mittelmeerrouten sind insgesamt 1’415 Frauen aufgeführt (IOM, 2021). Das Europäische Advocacy-Netzwerk gegen Nationalismus, Rassismus und Faschismus («UNITED for Intercultural Action») hat von 2014 bis März 2020 insgesamt 46 tote Schwangere dokumentiert (UNITED, 2020). Weitere Todesfälle von Schwangeren und deren Feten, besonders in den frühen Schwangerschaftsmonaten, bleiben ungezählt. Die humanitäre Organisation «Ärzte ohne Grenzen» schätzt, dass rund 30% der Frauen, die über das Mittelmeer fliehen, schwanger sind. «Die meisten schwangeren Frauen waren von ihren Fluchterlebnissen gezeichnet und zeigten tiefe Spuren der Traumatisierung», sagt die slowakische Journalistin Sára Činčurová im Interview mit der Autorin.

Sie war im Mai 2021 bei der ersten Mission des Rettungsschiffes «Sea-Eye 4» an der Bergung von 408 Menschen aus Seenot beteiligt und hat von deren Schicksalen erfahren. Im Sea-Eye-Podcast «Ehrlich gesagt» erinnert sie sich an die Rettung einer Schwangeren (Episode 13): «Es war schwer erträglich, eine im sechsten Monat schwangere Frau so durchnässt zu sehen». Auch bei der vierten Mission des Rettungsschiffes «Sea-Eye 4» rund um die Weihnachtstage 2021, wurden wieder vier Schwangere und einige Mütter mit ihren, zum Teil sehr kleinen Kindern, aus Booten gerettet. 48 Kinder wurden geborgen, einige davon unbegleitet. Nach der Bergung und der medizinischen Erstversorgung durch ein Medical-Team kümmert sich das Post-Rescue-Assistance-Team um die weitere Versorgung.

Geflüchtete Frau

Schwangerschaftsrisiken für Frauen auf der Flucht

Viele Schwangere sind bei ihrer Bergung dehydriert, unterernährt, physisch und psychisch völlig erschöpft. Verschiedene private Seenotrettungsorganisationen berichten wiederkehrend davon. Immer wieder kommt es vor, dass schwangere Frauen aufgrund der schwierigen und komplizierten Umstände kurz vor der Überfahrt, auf See, nach ihrer Bergung oder nach der Anlandung eine Fehlgeburt erleiden.

Hohe Blutverluste sind keine Seltenheit. Und sofern die Plazenta nicht geboren wird, kann es zu Infektionen kommen. Nicht selten kommt die Frau dadurch in einen lebensbedrohlichen Gesundheitszustand und muss umgehend von der jeweils zuständigen Küstenwache ins nächste Hospital evakuiert werden. Erheblicher Dysstress in einer permanent existenziell bedrohlichen Lebenssituation, Todesängste vor einer und bei der Überfahrt, Zukunftsungewissheit in den Lagern, aber auch die menschenunwürdigen Lagerbedingungen können vorzeitige Geburten und Fehlgeburten befördern. Immer wieder kommen Kinder auf Flüchtlingsbooten zur Welt.

Geflüchtete

Häufigste Komplikationen

Diverse wissenschaftliche Studien belegen inzwischen, dass im Kontext von Flucht Schwangerschaftskomplikationen wie Gestose, die Mangelversorgung des Fetus, Fehlgeburten, Fehlbildungen des Neugeborenen, Frühgeburten und die stationäre Intensivbehandlung des Neugeborenen, deutlich häufiger vorkommen und die Sterblichkeit von Mutter und Kind höher sind. Unter Normalbedingungen wären viele der jungen Menschen, die von Seenotrettungsorganisationen aus dem Mittelmeer gerettet werden, wohl kerngesund. Doch die Strapazen der Flucht, noch mehr die unmenschlichen Lagerbedingungen, körperlichen und psychischen Misshandlungen in den libyschen «Detention Camps» (Internierungslager) und nicht zuletzt die Zumutungen der Überfahrt haben tiefe Spuren an Körper und Seele hinterlassen.

Zwischen Hoffnung, Zukunftsangst und Retraumatisierung

«Im Hospital ist es im Moment extrem stressig. Wir mussten drei medizinische Evakuierungen veranlassen. Eine Schwangere befand sich in einem sehr kritischen Zustand», so der Rapport einer Medien-Koordinatorin an Bord wenig später. Die deutsche Hebamme Inge Lang, die selbst zehn Mal für «Ärzte ohne Grenzen» im Einsatz war, bestätigt im Interview mit der Autorin, dass die Situation unmittelbar nach der Rettung aus Seenot eine sehr aufgewühlte, emotionale sei, in der viele Menschen nach erlebter Todesangst oft erst einmal schreien und laut weinen. «Wenn dann etwas Beruhigung eingetreten ist, haben die Frauen manchmal gesungen», sagt sie. «Ich hatte aber immer ein mieses Gefühl dabei, weil ich mir vorstellte, mit welch großen Erwartungen sie nach Europa kommen und sich für viele die Erwartungen nicht erfüllen werden.»

Medizinische Evakuierung

Wissenschaftlerinnen weisen mit Blick auf die Fluchtgeschichte vieler Frauen daraufhin, welche gravierenden Auswirkungen Zugangsbeschränkungen für die Inanspruchnahme von Basisgesundheitsleistungen haben. Jesuthasan et al. (2018) können belegen, dass Zugangsbarrieren die Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) befördern oder Retraumatisierungen auslösen können, da ein solcher Versorgungsmangel ihnen bereits von der Flucht her bekannt sei. – Werden Hilfeerwartungen in den Aufnahmeländern enttäuscht, hat dies weitreichende Folgen für die Fluchtverarbeitung.

Immer wieder müssen schwangere Frauen und Mütter mit kleinen Kindern in Lagern an den EU-Außengrenzen unter prekären, menschenunwürdigen Bedingungen, ohne ausreichende Hygiene, genügend Nahrung oder Schutz vor Witterung, perspektivlos ihr Dasein fristen.

Sára Činčurová hat direkte Einblicke in die Lagersituation in Griechenland und an der polnisch-belarussischen Grenze. Sie sagt, es sei unstrittig, dass die Gesundheit der Neugeborenen und der Kinder in einer solchen Umgebung leide; Infektionen träten schneller auf (Podcast «Ehrlich gesagt» Episode 10). Deshalb könne es keine Alternative geben, als diese Frauen mit ihren Kindern aus diesen Lagern herauszuholen und sie in sicheren Unterkünften unterzubringen, erklärt sie weiter. «Vor allem aber brauchen sie eine angemessene medizinische Versorgung. Deshalb wird es unsere Aufgabe sein, darüber nachzudenken, wie wir Fluchtwege sicherer machen können.»

Geflüchtete Frau mit Baby

Warum Frauen flüchten

Häufig zeigen sich Staaten, aus denen Frauen fliehen, nicht willens genug, deren Rechte zu schützen oder sind selbst an Menschenrechtsverletzungen beteiligt. Frauen flüchten – neben Krieg, Terror und existenzieller Not – insbesondere vor frauenspezifischer Verfolgung, dazu gehören weibliche Genitalbeschneidung, Zwangsverheiratung, häusliche Gewalt, Vergewaltigung als Kriegswaffe, Versklavung, Zwangsprostitution und Menschenhandel. Die Zahl der fliehenden Frauen ist nicht geringer als die der Männer; mangels finanzieller Mittel und oft in Begleitung ihrer Kinder, verbleiben sie aber zumeist in den Grenzregionen ihres Herkunftslandes. Nur wenige gelangen bis nach Europa.

Welche traumatischen Erfahrungen machen Frauen?

Das Berliner Forschungsteam um Jesuthasan hat strukturierte, muttersprachliche Interviews mit Frauen aus Afghanistan, Syrien, Iran, Irak, Somalia und Eritrea (n=663), die seit ihrer Flucht in Deutschland leben, durchgeführt und sie nach widerfahrenen, traumatischen Erfahrungen im Herkunftsland und auf der Flucht gefragt. Von den Befragten berichteten

  • 46,3% von Hunger und Durst,
  • 51,5% von Obdachlosigkeit,
  • 35,9% vom mangelnden Zugang zu medizinischer Versorgung,
  • 54,8% vom Leben im offenen Kriegsgebiet,
  • 13,1% von Inhaftierung,
  • 15,3% von erzwungener Isolation,
  • 14,1% von Folter,
  • 13,4% von sexualisierter Gewalt durch Familienangehörige und/oder Fremde und/oder
  • 31,4% von der erzwungenen Trennung von ihrer Familie (Jesuthasan et al. 2018).

Sexualisierte Gewalt in den libyschen Lagern

Viele Schwangerschaften entstehen unter Bedingungen sexualisierter Gewalt im Kontext von Sklaverei, Menschenhandel oder Inhaftierung in den libyschen Lagern durch Wärter.

«Mindestens vier Frauen erzählten uns, dass sie täglich vergewaltigt und geschlagen worden seien», sagt die Journalistin Sára Činčurová im Interview. Dabei seien manche auch gefilmt worden. Libysche Männer hätten mit ihnen «gespielt». Ähnliche Berichte hat auch die Journalistin Lauren Wolfe festgehalten. Vergewaltigung und genderbasierte Gewalt als Mittel der Kriegsführung und bei Völkermord werden von ihr dokumentiert. «Alle Frauen, die sich auch nur für kurze Zeit in Libyen aufhielten oder dort festgenommen wurden (auch Männer), sprachen über erlebte oder beobachtete Vergewaltigungen, Schläge, Folterungen und von Schüssen. Jede einzelne Frau», so Wolfe 2015.

Geflüchtetes Kind

Rettung auf dem offenen Meer

Mit jeder Ankunft eines Rettungsschiffes in einem sizilianischen Hafen gingen laut einer internationalen Studie, in der zweiten Hälfte 2014, zwischen 152 und 414 Menschen von Bord (Trovato et al. 2016). Bis dahin hatten die Geflüchteten und Asylsuchenden bereits Tage auf eine Hafenzuweisung und die Disembarkation in einem «Port of Safety» (ein sogenannt sicherer Hafen) gewartet. Die Studie wertete die Gesundheitsdaten der innerhalb von fünf Monaten aus Seenot geretteten Menschen anhand der ärztlichen Konsultationen in einem Hospital im sizilianischen Hafen von Augusta aus. Dorthin wird etwa ein Viertel der aus Seenot geretteten und nach Sizilien gebrachten Menschen bei medizinischem Weiterbehandlungsbedarf gebracht.

Geflüchtete Frau mit Kind

Schaut man sich die Daten der Studie genauer an, waren mindestens 24% (n=612) der 2’593 medizinischen Konsultationen nach Ankunft im Hafen von Augusta (17% aller dort eingetroffenen Asylsuchenden), Menschen mit einem besonderen Schutzbedarf. 152 (5%) wurden stationär aufgenommen, ein Prozent befand sich in einem sehr kritischen Zustand. Unter den vulnerablen Personen waren 51 Frauen mit einer gynäkologischen oder geburtshilflichen Diagnose: abdominale Schmerzen, fehlende Kindsbewegungen, nicht bestätigte Schwangerschaft [zum Beispiel auch nach einer Fehlgeburt] oder Vaginalblutung bei bestehender Schwangerschaft (Trovato et al. 2016).

Die Hebamme Inge Lang hat bei ihren Einsätzen immer wieder auch mit minderjährigen Schwangeren gearbeitet. «In ihren Herkunftsländern ist es eher der Fall, dass Frauen ihre Kinder sehr jung bekommen, entsprechend anders fühlt es sich an, wenn eine 17-Jährigen bei uns schwanger ist», erklärt sie. «Der familiäre Zusammenhalt in den Herkunftsländern ist oft stärker ausgeprägt. Diese Unterstützung fehlt den Schwangeren im Kontext von Flucht.» – Insgesamt erlebte sie die geflüchteten Frauen aber oft sehr stark – trotz der widrigen Umstände, die ihnen widerfahren. «Ich habe mich oft gefragt, wie sie mit diesen erlebten Gewalterfahrungen überhaupt weiterleben konnten.»

Geflüchtete Frau

Auswirkungen von Flucht auf spätere Schwangerschaften

Eine interdisziplinäre, deskriptive Studie ergab, dass schwangere Frauen und junge Mütter nach Fluchterfahrung ein sehr hohes Risiko für die Entwicklung mentaler Gesundheitsprobleme und peripartaler Komplikationen haben; auch die Risiken für das Kind seien deutlich erhöht (Kaufmann et al. 2020).

Die Forscherinnen analysierten die besonderen Bedürfnisse von 120 schwangeren Frauen und jungen Müttern, die im Zeitraum von November 2017 bis Mai 2018 eine psychosoziale Tagesklinik auf dem Gelände einer deutschen Registrierungs- und Aufnahmeeinrichtung aufsuchten. 69,6% der Frauen erfüllten die Kriterien einer PTBS und schilderten mindestens ein traumatisches Ereignis. Die meisten Frauen stammen aus Sub-Sahara-Afrika (75%); viele sind Christinnen (67,5%) und die Hälfte Primiparae (50,8%). 39,2% von ihnen sind zum Zeitpunkt der Befragung alleinstehend, getrennt lebend, geschieden oder verwitwet, in 9,2% der Fälle war der Vater unbekannt – ob es sich bei Letzterem um Vergewaltigungen handelte, wurde nicht weiter bewertet.

Geflüchtetes Kind

Zahlen zu Problemen in der Folgeschwangerschaft

Die Frauen zeigten während ihrer Schwangerschaft posttraumatische Stress-, Anpassungs- oder depressive Störungen, 87% hatten Geburtskomplikationen. Die Wissenschaftlerinnen diagnostizierten komplexe, gesundheitliche und auch soziale (Be-)Handlungsbedarfe:

  • 24,1% erlebten die Schwangerschaft als sehr schwierig, 45,5% nannten «Probleme».
  • 51,7% gaben schwangerschaftsbezogene Ängste aufgrund ihrer aktuell schwierigen Lebenssituation an und fürchteten, den Fetus zu gefährden oder zu verletzen.
  • 28,1% hatten Angst vor der Geburt.
  • 52,3% hatten in ihrer Vorgeschichte bereits Fehlgeburten, Todgeburten, Mehrlingsgeburten oder eine unzureichende postpartale Versorgung des Kindes erlebt; 16,7% fürchteten deshalb erneut medizinische Komplikationen.
  • 35,1% hatten aktuell medizinische Komplikationen, aufgrund von HIV, Hepatitis, Diabetes, Hypertonie oder weiblicher Genitalbeschneidung.

Angesichts des komplexen, gesundheitlichen und sozialen Handlungsbedarfs sei es besonders wichtig, dass das Gesundheitspersonal sich der hohen Vulnerabilität der Frauen im Hinblick auf die mögliche Entwicklung einer mentalen Störung und der transgenerationalen Weitergabe im Falle des Scheiterns einer Behandlung bewusst seien (Kaufmann et al.2020). Die Bedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen geben das aber oft nicht her.

Besonderer Schutzbedarf

In den kollektiv organisierten Unterkünften der italienischen Erstaufnahmeeinrichtungen kommt bspw. vulnerablen Personen, wie Schwangeren, alleinstehenden, jungen Frauen oder unbegleiteten Minderjährigen, keine besondere Betreuung zu. So könnten diese «leichte Beute für Menschenhändlerringe [werden], in denen sie weiterem (sexuellem) Missbrauch und anderen Arten der Ausbeutung, in den Empfangszentren und außerhalb, ausgesetzt sind», kritisiert die Schweizerische Flüchtlingshilfe die Situation in Italien (Romer et al. 2020). Für die Dauer der Registrierung und des Asylverfahrens sei die Sicherheit in den bereitgestellten Unterkünften zudem oft nicht gewährleistet: Türen seien nicht abschließbar und Bäder würden gemeinschaftlich und geschlechtsunabhängig genutzt (Zoeteweij et al. 2019).

Fazit zur Situation von flüchtenden Frauen

Werden Geflüchtete und Asylsuchende an den europäischen Außengrenzen ohne Prüfung ihres Asylgesuchs abgewiesen, handelt es sich um Verstöße gegen internationales Recht (Genfer Flüchtlingskonvention Art. 33, Europäische Menschenrechtskonvention Art. 3 und andere internationale Vereinbarungen).

Insbesondere Menschen anderer Hautfarbe und Religion erfahren an den EU-Außengrenzen Diskriminierung und Gewalt, wie dies auch aktuelle Medienberichte über Vorfälle an der ukrainischen Grenze zur EU zeigen. Auf dem Mittelmeer wurden 2018 knapp die Hälfte der Fluchtversuche mit völkerrechtswidrigen Rückführungen nach Libyen oder Tunesien beantwortet, wo die Menschen erneut unendlichem Leid und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wurden. Für Schwangere, Gebärende, Wöchnerinnen, Neugeborene und kleine Kinder sind die Risiken auf der Flucht besonders hoch. Es bedeutet für viele Frauen ein Leben in ständiger Angst um sich und ihre Kinder.

Baby

Das Fehlen einer geeigneten psychischen und physischen Gesundheitsversorgung verschärft deren Situation weiter – auch auf längere Sicht. Daher sollte die humanitäre Situation – als Ganzes im Blick – nicht mehr einzelnen Staaten, privaten NGOs und Grenzbewohner*innen überlassen bleiben. Angesichts der Zuspitzung an den EU-Außengrenzen wäre es wichtiger, der Schutzbedürftigkeit dieser Menschen mit politischer Entschlossenheit zu begegnen und deren Versorgungssituation gemeinsam umgehend zu verbessern. Andernfalls werden sich weiter rechtsfreie Räume zum Leidwesen der Verwundbarsten etablieren.


Dieser Artikel ist erstmals in gekürzter Fassung in der Obstetrica erschienen:
Melanie M. Klimmer 2022: „Fokus Ausland. Frauen auf der Flucht“, erschienen in Obstetrica 4 (119): 34-37, herausgegeben vom Schweizerischen Hebammenverband, Olten.

Die Autorin:

Melanie M. Klimmer, Cultural Anthropologist MD and Advocacy Anthropologist, Nurse with further education in humanitarian health care, lecturer in Clinical Sociology and Social Politics at Universities and political foundations, mediator (Johan Galtung), and since 2016 freelance Science Journalist, Human Rights reporter and Author on medical issues.

Fotos

Die Fotos sind Symbolbilder und stammen aus unterschiedlichen Einsätzen der SEA-EYE 4.

Literatur

Internationale Organisation für Migration (IOM) https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean.

Jesuthasan, J. et al. (2018) Near-death experiences, attacks by family members, and absence of health care in their home countries affect the quality of life of refugee women in Germany: a multi-region, cross-sectional, gender-sensitive study. BMC Med; 16, 15.

Kaufmann, C. et al. (2021) Maternal healthcare needs of refugee women in a State Registration and Reception Centre in Germany: A descriptive study. Health & Social Care in the Community ; 00.1-10. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/hsc.13508

Romer, A. et al. 2020: Aufnahmebedingungen in Italien. SFH (Hrsg.), Bern, Januar 2020

Trovato, A. et al. (2016) Dangerous crossing: demographic and clinical features of rescued sea migrants seen in 2014 at an outpatient clinic at Augusta Harbor, Italy. In: Conflict and Health; 10:14. DOI 10.1186/s13031-016-0080-y.

UNHCR (2020) Mid-year-Trends. https://www.unhcr.org/mid-year-trends.html

UNITED for Intercultural Action (2020) List of 36 570 documented deaths of refugees and migrants due to the restrictive policies of «Fortress Europe»; Documentation.

Wolfe, L. (2015) The missing women of the mediterranean refugee crisis. July 24. https://womensmediacenter.com/women-under-siege/missing-women-of-the-mediterranean-refugee-crisis

Zoeteweij, M. et al. (2019) Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien. Bern: Schweizerische Flüchtlingshilfe.

Bochum Rettet

Seit Anfang April wird in der Bochumer Zivilgesellschaft dafür geworben, die Aktion „Bochum Rettet“ zu unterstützen. Ziel der Kampagne ist es, eine Patenschaft für das Seenotrettungsschiff SEA-EYE 4 von Sea-Eye e. V. zu übernehmen. Die Stadt Bochum hat dabei als Kommune beschlossen, jeden gespendeten Euro aus der Zivilgesellschaft bis zu einer Gesamthöhe von 30.000 € durch Mittel der Stadt zu verdoppeln. Dieses Ziel wurde in den drei Monaten des Kampagnenzeitraums weit übertroffen: Insgesamt sind somit über 60.000 € für die zivile Seenotrettung aus Bochum zusammengekommen, um das Sterben von Flüchtenden im Mittelmeer zu verhindern.

Die gespendeten 35.894 Euro zeigen, wie groß die Bereitschaft innerhalb der Zivilgesellschaft ist, die zivile Seenotrettung zu unterstützen. Denn immer noch ist das Mittelmeer die gefährlichste Fluchtroute der Welt, auf der jährlich mehrere Tausend Menschen sterben. Mit dem Projekt ‚Bochum Rettet‘ wollen wir dafür ein Bewusstsein schaffen und aufzeigen, dass wir vor Ort Verantwortung übernehmen können und müssen“, sagt Carla Scheytt, Mitglied des Organisationsteams der Aktion.

Sie fügt hinzu: „Neben sehr vielen Einzelpersonen haben auch Vereine und Organisationen gespendet. An dieser Stelle bleibt es bei uns, Danke zu sagen! Ohne den Einsatz und das Engagement so vieler Menschen wäre das nicht möglich gewesen! Wir sehen den Erfolg der Spendenkampagne als Zeichen der Solidarität der Bochumer Zivilgesellschaft mit Menschen auf der Flucht.

Besonders der Organisationskreis und die Mitarbeiter*innen von Sea-Eye e. V. freuen sich über dieses Ergebnis. Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e. V., ist zuversichtlich, dass Bochum damit ein Vorbild für weitere Städte werden kann: „Bochum hat gezeigt, dass eine Kommune einen aktiven Part in einer humanitären Fluchtpolitik einnehmen kann. Das gesammelte Geld kommt konkret dort an, wo es gebraucht wird. Mit den eingegangenen Spenden haben wir kürzlich den Schiffstank für die aktuellen Missionen gefüllt.“ Weiterhin sieht er diesen Erfolg nicht als Ende, sondern Beginn einer Projektreihe: „Es gibt bereits Planungen, dieses Erfolgsmodell auch in andere Städte zu tragen. Daran werden wir jetzt mit viel Einsatz arbeiten.

Über eine Abschlussveranstaltung zum Erfolg des Projekts wird das Organisationsteam nach Ende der Sommerferien informieren.