«Das Kind verlieren wäre das Schlimmste»

Von Melanie M. Klimmer, 16. Februar 2022

Der deutsche Arzt Jakob Willenborg war Mitte Dezember 2021 Teil des «Medical Teams» an Bord des Rettungsschiffes «Sea-Eye 4» und behandelte im Bordhospital auch mehrere schwangere Frauen. In einem Interview mit der Journalistin Melanie Klimmer erzählt er von Frauen auf der Flucht und den emotional und medizinisch herausfordernden Situationen.

Melanie M. Klimmer: In den libyschen Detention Camps bekommen Internierte oft kaum Nahrung, auch die Kinder nicht. Berichte von Folter, Nahrungsentzug, Vergewaltigungen, körperlicher Misshandlung dringen regelmäßig an die Öffentlichkeit. Wenn diese Menschen dann über das Meer fliehen, hungern und dürsten sie wieder, sind auf dem offenen Meer Wind und Wetter ausgesetzt, dehydrieren, kühlen aus. Wie haben Sie den Allgemeinzustand der Geflüchteten nach ihrer Rettung wahrgenommen?

Jakob Willenborg: Die von uns geretteten Menschen sind, mit Ausnahme von drei Älteren und den kleineren Kindern, fast alle jung und zwischen 15 und 35 Jahre alt. Es war für mich erschreckend zu sehen, in welch reduzierten Allgemeinzustand 70-80 Prozent von ihnen waren. Einige mussten wir über Nacht im Hospital behalten und dort überwachen und behandeln – junge Menschen mit stark reduziertem Immunsystem! Das ist in diesem Alter sonst äußerst selten und unter Normalbedingungen wären sie gesund; sie bräuchten keinen Arzt. Viele der Geflüchteten hatten Pneumonien. Auch ein Tbc-Verdachtsfall war dabei. Dann die lange Immobilisation in diesen Booten – ein kleiner Junge konnte tagelang nicht mehr gehen.

Jakob: Arzt an Bord der SEA-EYE 4

Aus Angst, dass das Boot kentern könnte, müssen alle tagelang ausharren und stillhalten.

In den Holzbooten können sich die Menschen tagelang nicht bewegen. Was das am Ende für Schmerzen sein müssen, kann man sich gar nicht vorstellen. Wie muss es da erst einer schwangeren Frau gehen, wenn sie lange regungslos sitzen muss und tagelang nicht liegen kann? – In Urintests bei schwangeren Frauen und auch bei Geflüchteten mit entsprechender Schmerz-Symptomatik beim Wasserlassen konnten wir den Muskelabbau sogar feststellen: In fast allen Fällen konnten wir sowohl eine Proteinurie als auch eine Ketonurie nachweisen, zwar in einem noch reversiblen Maß, es zeigt aber deutlich, was dem Körper mit einer solchen Überfahrt zugemutet wird.

Hatten Sie auch schwangere Frauen an Bord der Sea-Eye 4? 

Wir hatten sechs Schwangere an Bord. Eine Schwangerschaft hatte sich allerdings nicht bestätigt. Sowohl die junge Frau, als auch ich kamen aus einer Extrembelastung heraus. Da hatte es gleich zu Beginn ein Missverständnis – ein Kommunikationsdefizit – gegeben. Nachdem ich dann bei ihr einen Schwangerschaftstest durchgeführt hatte und dieser negativ war, war klar: Sie war nicht schwanger – oder nicht mehr. Das war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.

Mit der Extrembelastung meinen Sie den Moment der Rettung?

Ja. Die Geflüchteten waren bei uns vier Tage, in anderen Fällen noch deutlich länger, auf so einem hochseeuntauglichen Boot. Das Trinkwasser wird knapp. Sie haben nichts zu essen, leiden Hunger und Durst. Dann werden sie von uns aus diesen Schlauch- oder Holzbooten geholt und zur Sea-Eye 4 hinübergebracht. Dort müssen sie dann aus den Schnellbooten, auf das Mutterschiff hinauf. Da gibt es noch einmal Wellengang. An Bord werden sie registriert. Diejenigen, die medizinische Hilfe benötigen, werden gleich versorgt. Und da gibt es viele Sprachbarrieren und es kann auch manches durcheinanderlaufen. Es gab auch Menschen, die im Kontakt sehr ängstlich waren. Manche weinten, als diese tagelange Anspannung in lebensgefährlicher Situation endlich nachließ und sie sich sicherer fühlten.

Rettungseinsatz

Wie haben Sie die Schwangeren betreut?

Wir haben uns bei der Schwangerenversorgung an den üblichen Standards orientiert, allerdings unter den Einschränkungen an Bord, das heißt wir haben regelmäßige Blutdruck- und Blutzuckermessungen sowie Urintests durchgeführt, um die Schwangerschaft zu bestätigen und auch um zu schauen, ob eine Proteinurie vorliegt, die schlimmstenfalls auf die Entwicklung einer Präeklampsie hindeuten kann. Jede Schwangere haben wir mindestens einmal gesehen. Wenn etwas auffällig war, haben wir die Frau engmaschiger betreut. Eine Schwangere war beispielsweise aufgrund von starker Übelkeit und Bauchkrämpfen sehr dehydriert, der Venenstatus schlecht. Ich kann sagen: Alle Schwangeren, bis auf eine, befanden sich noch bei der ersten Untersuchung in einem sehr schlechten Zustand. Nur eine schwangere Frau war beschwerdefrei.

Immer wieder gibt es Berichte, dass Frauen auf der Flucht in dramatischer Weise Fehlgeburten erleiden. Wie geht man damit als Ärztin oder Arzt in der humanitären Arbeit um – auf einem Rettungsschiff zum Beispiel?

Ja, manche Frauen verlieren auf der Flucht das ungeborene Kind, manchmal schon ihr zweites. Selbstgemachte Aufnahmen geflüchteter Frauen geben darüber manchmal Aufschluss. In der Seenotrettung versuchen wir dem dann nachzugehen und die Fehlgeburt mit einem negativen Schwangerschaftstest und einem Ultraschall zu bestätigen. Leider kommen solche Fälle immer wieder vor. Diese Situationen sind dann oft dramatisch für die Frauen, die davon betroffen sind, weil sie mit starken Schmerzen, psychischer Belastung und im schlimmsten Fall mit einem sehr hohen Blutverlust einhergehen, sie erhalten dann aber oft nicht die notwendige medizinische Hilfe. Und natürlich bedeutet es ihnen auch sehr viel, ihre Kinder gesund zur Welt zu bringen.

Krankenstation der SEA-EYE 4

Für die meisten geflüchteten Frauen könnte es nichts Schlimmeres geben, als das Kind zu verlieren. Ich habe da unglaublich tiefe Verzweiflung bei einigen Frauen gesehen, die gerettet wurden. Manche leben in ständiger Angst um das Ungeborene, dass es sterben könnte.

Haben Ihnen Frauen von Fehlgeburten berichtet?

Die Frauen sprechen selten direkt darüber. Um darüber sprechen zu können, braucht es Vertrauen. Es kann dauern, bis so etwas zur Sprache kommt.

Ich stelle es mir extrem schwierig vor, das Thema überhaupt anzusprechen.

Wir gehen in unseren Gesprächen oft bewusst nicht ins Detail. Das machen wir zum einen nicht wegen der Sprachbarrieren. Zum anderen haben wir keine sichere Umgebung dafür. Wir können den geflüchteten Menschen an Bord nicht wirklich einen geschützten Raum geben, wenn Trauma-Erfahrungen reaktiviert werden sollten. So ein Schiff gibt die dafür notwendigen Rahmenbedingungen nicht her.

Für diese Gespräche braucht es erst eine Vertrauensbasis.

Und selbst wenn die Frauen Vertrauen schöpften. Für mich spielt es immer auch eine Rolle, dass wir die Möglichkeiten für eine angemessene Nachsorge an Bord einfach nicht haben. Man weiß nicht vorher, was in einer psychischen Extrembelastung, in der traumatische Erlebnisse erinnert werden, ausgelöst werden könnte. Das Einzige, was wir haben, ist dieses Krankenhaus an Bord. Wir gehen deshalb nicht zu tief in solche Berichte hinein, weil wir fürchten, die Situation an Bord nicht mehr händeln zu können. Das Hospital steht den Patient*innen immer nur für eine begrenzte Zeit zur Verfügung, weil schon nach Minuten – mit etwas Glück auch ein bisschen länger – schon ein nächster Notfall eintreffen kann.

Arzt an Bord der SEA-EYE 4

Welche Rolle spielt es, dass Sie als männlicher Arzt Hilfe anbieten?

Da ging ich von vornherein behutsam vor. Als männlicher Arzt habe ich bei den Frauen jedes Mal nachgefragt, ob es okay ist, wenn ich sie untersuche. Auch habe ich die schwangeren Frauen nie alleine untersucht, sondern immer im Beisein von mindestens einer weiblichen Person aus der Crew. Wir hatten noch die beiden Paramedics – zwei Frauen – mit an Bord und explizit angeboten, dass sie jeweils die medizinische Versorgung übernehmen. Alle Frauen haben das in diesem Fall aber nicht gewünscht und meiner ärztlichen Hilfe zugestimmt.

Was war für Sie die eindrücklichste Erfahrung während des Einsatzes?

Davon zu erfahren, was einer schwangeren Frau auf ihrer Flucht widerfahren ist, was sie durchgemacht hat – und es deutete alles darauf hin, dass sie Schreckliches erlebt hat – und dann von ihr gefragt zu werden, ob es in Europa gute Menschen gebe. Sie hat an den Menschen generell gezweifelt.

Das trifft einen ins Mark.

Sie war noch sehr jung, sehr mager. Sie hatte lange Zeit nichts mehr gegessen. Durch diese ganze, vorausgegangene Belastungssituation, dazu die Schwangerschaft und den Seegang, litt sie unter extremer Übelkeit. Mit der Zeit hatte sie Vertrauen zu uns aufgebaut und sich wohler gefühlt. Als es in unserem Hospital dann etwas ruhiger war, konnte sie zum Glück eine Nacht zur Überwachung bleiben und da auch schlafen.

In einem Bericht von Bord schilderten Sie, dass viele Geflüchtete unter gastrointestinalen Symptomen gelitten haben. Bei meinen Recherchen stieß ich auf eine Studie, die belegt, dass viele geflüchtete Frauen, die aus IS-Gefangenschaft und IS-Gewalt befreit wurden und eine «psychologische Last» («psychological burden») und eine Posttraumatischen Belastungsstörungen davontrugen, beobachtbar an spezifischen, häufiger auftretenden Symptomen leiden, dazu gehören unter anderem gastrointestinale Beschwerden, Schmerzen am ganzen Körper, Missempfindungen der Haut, schwerwiegende Herzprobleme oder Dissoziation (Rometsch-Ogioun 2018).

Sehen Sie Parallelen zu Symptomen, denen Sie an Bord der Sea-Eye 4 begegnet sind?

Ja, definitiv! Eine schwangere Frau, die zunächst unter starker Übelkeit und Bauchschmerzen litt, sehr adynam, erschöpft und psychisch extrem belastet war, entwickelte ein ausgeprägtes Brennen bei jeder einzelnen Berührung. Es war ein Brennen in allen Zehen. Ich konnte dafür aus rein medizinischer Sicht keine Erklärung finden, denn die Symptome gingen nicht mit einem sensorischen Verlust oder mit motorischen Lähmungserscheinungen einher. Die Symptome ließen aber ab dem Moment nach, als sie sich sicher wusste, nicht mehr nach Libyen zurückgeführt zu werden und sie sich psychisch stabiler fühlte. Es ging ihr plötzlich deutlich besser, sie wurde wieder agiler, vertrauter und teilweise fröhlicher. – Solche Missempfindungen würden zu dem passen, was Sie eben als mögliche posttraumatische Belastungsreaktion beschrieben haben.

Medizinische Evakuierung

Während des Einsatzes auf der Sea-Eye 4 berichteten Sie auch von häufig auftretenden, sehr starken gastrointestinalen Symptomen auch bei den schwangeren Frauen. Könnten das auch Hinweise auf eine PTBS sein?

Gastrointestinale Beschwerden traten tatsächlich häufiger auf, für die es aber kein sonographisches Korrelat gab. Manche von diesen Frauen waren in den ersten Tagen sehr apathisch. Eine Schwangere war viel gelegen. Ich musste sie immer wieder ermutigen, aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen. In der Vergangenheit hat sie unglaublich viel Leid ertragen müssen und rechnete nun mit neuem Leid. Immer wieder hatte sie Ausbrüche der Verzweiflung. – Von Apathie bis hin zu starken Ängsten und tiefer Verzweiflung habe ich an Bord alle Facetten gesehen. 

Hatten die Frauen auch Angst im Kontakt mit dem Medical Team?

Schon beim ersten Kontakt habe ich festgestellt, dass Angst und Misstrauen bestehen. Es hat gedauert, bis wir Vertrauen aufbauen konnten. Einige Frauen schienen verwundert, dass keine Gegenleistung für die medizinische Versorgung verlangt wurde. Diese strukturellen Missstände begleiten die Menschen auf ihrer gesamten Flucht.

Gesundheitsversorgung ohne Gegenleistung ist in vielen Ländern unbekannt. Auf der Flucht und ohne Zahlungsmittel kommen Frauen oft in Gefahr, für Hilfeleistungen sexuell ausgebeutet zu werden.

Für mich als Arzt war es erschreckend zu erleben, selbst unter diesen einfachsten Bedingungen auf einem Rettungsschiff, mit deutlich weniger Mitteln und Möglichkeiten als in einer Arztpraxis oder einer Klinik in Deutschland und mit noch weniger Zeit zwischendurch, die ich mir hätte nehmen können, auf eine, teils schon für mich unangenehme, übergroße Dankbarkeit zu stoßen. Der Kontakt war noch kürzer, die Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie weitaus geringer, und trotzdem war das, was ich diesen Menschen geben konnte für sie überragend viel. Die Erfahrung, dass sie für Hilfe nichts geben müssen und nichts von ihnen verlangt und erwartet wird, dass jemand ehrlich nachfragt, das schienen viele nicht zu kennen.

Medizinische Evakuierung

Warum war das unangenehm für Sie? 

Weil ich nicht mehr für sie gemacht habe, sondern weniger. Es ist einfach schrecklich zu sehen, viel weniger anbieten zu können, gleichzeitig zu sehen, dass selbst ein so banales Recht auf eine angemessene, gesundheitliche Versorgung als etwas so Außergewöhnliches erlebt wird.

Über Jahre der Flucht haben die meisten Geflüchteten keine einzige gesundheitliche Versorgung erhalten. Da kann diese «einfache» Hilfe viel bewirken. Hat es auch eine Rolle gespielt, dass es auf den Rettungsschiffen keine Privatsphäre gibt und auch nicht geben kann? War das belastend für diese Frauen?

Der Entzug der Privatsphäre spielt auch eine Rolle. Einige Frauen, die apathisch reagierten, wollten lieber liegen bleiben im Sinne von «Was soll ich anderes tun? Überall sind Menschen.» Auf einem Rettungsschiff kann es keine Privatsphäre geben. 20 andere Frauen und deren Kindern sind sie in einem Container an Bord untergebracht. Die Bedingungen könnten besser sein, ganz klar. Aber es geht nicht anders. Wichtig ist, dass diese Menschen erst einmal in Sicherheit sind.

Gab es auch die Momente, in denen Sie sich als junger Internist unsicher fühlten?

Bei einer Schwangeren war ich unsicher, ob sie nicht eine Präeklampsie entwickelte. Sie hatte sehr auffällige Symptome.

Was haben Sie dann gemacht?

Ich habe dann eine Gynäkologin auf dem Festland kontaktiert, die für solche Fälle für uns immer erreichbar war. Sie erklärte mir dann, dass eine Frau zu diesem Zeitpunkt der Schwangerschaft noch keine Präeklampsie entwickeln kann. Das habe ich dort auf dem Schiff gelernt [der Internist schmunzelt].

Wie wichtig ist Ihnen der Einsatz auf der Sea-Eye 4?

Mir sind Menschenrechts-Aktivismus, aber eben explizit auch die Seenotrettung sehr wichtig, weil es hier um die Menschen geht, die durch die globale Ungleichheit dazu gedrängt werden, sich auf eine lebensbedrohliche Reise zu begeben und dann auf dem Mittelmeer von Europa im Stich gelassen und oft dem Tod überlassen werden. Es ist dasselbe Europa, das für viele der Fluchtursachen verantwortlich ist. Mit ist aber auch wichtig, das ganze Farbenspektrum zu sehen.

Was meinen Sie damit?

Nun, es gehört zum Beispiel auch dazu zu zeigen, dass das auch sehr starke Frauen sind, denen wir da begegnen, Frauen, die unglaublich viel geleistet und zum Teil eine enorme Resilienz entwickelt haben, mit ihrer Situation umzugehen. Sie zeigen, dass eben nicht alles zerbrochen ist, sondern es da auch Momente großer Freude gibt.

An welche Situation erinnern Sie sich da?

Als Internist habe ich mit einem einfachen Ultraschallgerät im Bordhospital keine hochspezifischen Untersuchungen gemacht und auch keine Geschlechtsbestimmung am Fetus vorgenommen. Aber allein schon die Kindsbewegungen im Ultraschall zu zeigen, hat bei den schwangeren Frauen maximale Glücksgefühle ausgelöst. Und diese überschwänglichen Glücksmomente hat es auf dem Schiff eben auch gegeben. Oder dann, als sich der Zustand der Schwangeren nach zwei, drei Tagen deutlich gebessert hat und sie wieder essen und trinken konnten, sie wieder zu Kräften kamen – das waren sehr tiefgehende, schöne Erlebnisse.  

Gerettete und Crew

Das kann ich absolut nachempfinden. Das waren sehr befreiende Momente.

Ich möchte es noch einmal in aller Deutlichkeit betonen – es gibt da die andere Seite: die Seite der Kraft der Frauen, die Seite des Lebensglücks, das diese Frauen genauso empfinden, auch wenn eine Schwangerschaft auf der Flucht unglaublich belastend und schwierig sein kann. Was ich aber auch glaube ist – und das konnte ich mit den Frauen nicht eingehender besprechen –, dass es da auch eine Kraft in ihnen gibt, für dieses Leben zu kämpfen, das da in ihrem Bauch heranwächst.

Vielleicht sind sie deshalb so verzweifelt oder apathisch, wenn sie feststellen, es wartet vielleicht eine ungewisse Zukunft oder eine Rückführung nach Libyen? 

Ja. Das könnte sein.

Was wissen Sie über die medizinische Versorgung nach der Disembarkation?

Nach der Ankunft im sizilianischen Hafen von Pozzallo ist das italienische Rote Kreuz mit zwei Ärzt:innen gekommen. Sie haben den Behandlungsbedarf der Menschen gecheckt; Schwangere und alle anderen Personen, die medizinische Hilfe benötigen, sind dann in eine Hilfeeinrichtung gebracht worden. Alle anderen werden nach ihrer Registrierung auf ein Quarantäneschiff gebracht, das wieder aufs Meer hinausfährt und vor der Küste ankert.

Das löst bei den Menschen doch sicher große Angst aus, nach Libyen zurückgebracht zu werden.

Ich hoffe sehr, dass man mit ihnen darüber ausreichend kommuniziert und sie wissen, was da mit ihnen passiert.

Befindet sich auf den Quarantäneschiffen auch medizinisches Personal?

Wenn medizinische Fälle auftreten, werden Ärzt:innen hingebracht. Über die weitere Versorgung darüber hinaus kann ich jedoch keine sicheren Auskünfte geben.

Wenn die Bedingungen der Flucht permanent unsicher und strapaziös sind, kann die Hoffnung auf ein normales Leben sehr erschüttert werden. Auch deshalb kann es wichtig sein, andere Perspektiven auf das Thema zu öffnen, oder?

Klar, bei der Berichterstattung von Menschenrechtsorganisationen wird das Augenmerk oft daraufgelegt, welch unmenschliche Behandlung, welches Leid die Geflüchteten da erfahren. Das ist wichtig, um diese dauerhaften Menschenrechtsbrüche offenzulegen. Aber meiner Meinung nach schafft das auch eine Distanz und entmenschlicht die Geflüchteten oft. Das schafft eher Distanz, was ja nicht der Zweck sein kann. Diese Menschen freuen sich genauso über ein Ultraschallbild vom ungeborenen Kind wie alle anderen auch. So etwas schafft Identifikation, darüber sollte man auch in den Medien berichten!

Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch. 

Zur Person:
Jakob Willenborg ist Internist in Weiterbildung (4. Berufsjahr) aus dem Raum Köln/Bonn. Als German Doctor war er zuvor schon im humanitären Einsatz in einer abgelegenen Region auf den Philippinen. Bei der vierten Mission des Rettungsschiffes Sea-Eye 4 vom 13. bis 24. Dezember 2021 war er Teil des Medical Teams und behandelte im Bordhospital auch mehrere schwangere Frauen.


Langfassung des Interviews von Melanie M. Klimmer mit dem Internisten Jakob Willenborg. Erstveröffentlichung in Obstetrica 6 (119): 52-55, herausgegeben vom Schweizerischen Hebammenverband, Olten, Rubrik „Fokus Ausland“ unter dem Titel „Das Kind verlieren wäre das Schlimmste“ (gekürzte Fassung)

Die Autorin:

Melanie M. Klimmer, Cultural Anthropologist MD and Advocacy Anthropologist, Nurse with further education in humanitarian health care, lecturer in Clinical Sociology and Social Politics at Universities and political foundations, mediator (Johan Galtung), and since 2016 freelance Science Journalist, Human Rights reporter and Author on medical issues.

Fotos

Die Fotos sind Symbolbilder und stammen aus unterschiedlichen Einsätzen der SEA-EYE 4.

Literatur

Rometsch-Ogioun El-Sount C et al. (2018): Psychological Burden in Female, Irak Refugees Who Suffered Extreme Violence by the “Islamic State”: The Perspective of Care Providers. Front. Psychiatry 9:562. doi: 10.3389/fpsyt.2018.00562 (letzter Zugriff: 01.02.2022)