Gemeinsame Pressemitteilung von Sea-Eye, German Doctors, Refugee Rescue und United4Rescue

Organisationen fordern: EU-Staaten müssen Politik der Abschreckung sofort beenden

Am Samstag, den 21.05.22, beginnt in Trapani auf Sizilien die Vorverhandlung gegen 21 Seenotretter*innen. Ihnen wird vorgeworfen, „Beihilfe zu illegaler Migration“ geleistet zu haben. Zahlreiche Organisationen bekunden im Vorfeld ihre Solidarität mit den Angeklagten. So findet am Samstag ein deutschlandweiter Aktionstag statt, bei dem Sea-Eye-Gruppen sowie Aktivist*innen der Seebrücke und anderen Organisationen auf die Straße gehen.

Anlässlich der Vorverhandlung veröffentlichen Sea-Eye, German Doctors, Refugee Rescue und United4Rescue, die als Partnerorganisationen mit dem Rettungsschiff SEA-EYE 4 Seenotrettung betreiben, ein gemeinsames Statement.

Gemeinsames Statement:

21 Seenotretter*innen sind angeklagt, weil sie Menschen vor dem Ertrinken gerettet haben. Dieser Satz darf niemals zur Normalität werden, er muss uns immer tief im Herzen weh tun, denn sonst verlieren wir nicht weniger als das Menschenrecht auf Leben.

Bei der Vorverhandlung am 21. Mai 2022 sitzen die Seenotretter*innen zur Abschreckung auf der Anklagebank, denn in Trapani geht es nicht um „Beihilfe zu illegaler Migration“. Der gesamte Prozess mit seinem 5-jährigen Ermittlungsverfahren verfolgt nur ein Ziel: Abschreckung. Seeleute sollen es sich zweimal überlegen, ob sie flüchtende Menschen aus Seenot retten.

Nachdem die EU-Mitgliedsstaaten 2015 ihre Seenotrettung im Mittelmeer eingestellt hatten, begannen sie, die lebensrettende Arbeit der Seenotrettungsorganisationen zu blockieren oder zu behindern. So wurden Rettungsschiffe festgesetzt und die Ausschiffung von geretteten Menschen verzögert oder verwehrt. Dass europäische Rettungsleitstellen Notrufe von Menschen in Seenot ignorieren und ihre Pflicht zur Koordinierung von Rettungsmaßnahmen verweigern, ist traurige Realität geworden.

All diese Maßnahmen sind Bestandteile einer grausamen Abschottungspolitik, die sich nicht scheut, Seenotretter*innen zu kriminalisieren und anzuklagen. Den 21 Angeklagten drohen bis zu 20 Jahre Haft und eine Geldstrafe von 15.000 € pro gerettete Person.

Dieser menschenverachtenden Abschreckungspolitik stellen sich Sea-Eye, German Doctors, Refugee Rescue und United4Rescue entschieden entgegen und fordern die sofortige Einstellung der Verfahren gegen die angeklagten Seenotretter*innen.

Doch nicht nur Seenotretter*innen finden sich auf europäischen Anklagebänken. Immer wieder werden auch flüchtende Menschen in Italien, Griechenland und anderen EU-Ländern der „Beihilfe zur illegalen Migration“ beschuldigt. Allein in Italien wurden seit 2013 mindestens 2.500 Menschen inhaftiert.

Daher fordern wir, dass die inhaftierten Geflüchteten freigelassen werden und die EU-Mitgliedsstaaten ihren menschenfeindlichen Kurs der Abschottung und Abschreckung sofort beenden. Die EU muss Menschen auf der Flucht endlich unterstützen und schützen, statt sie zu kriminalisieren und in überfüllte Lager einzusperren.

Um das Sterben im Mittelmeer endlich zu beenden, fordern Sea-Eye, German Doctors, Refugee Rescue und United4Rescue, ein europäisches Seenotrettungsprogramm einzuführen sowie legale und sichere Fluchtwege zu schaffen.

Sea-Eye, German Doctors, Refugee Rescue, und United4Rescue

Boot

Malta lässt 24 Menschen auf See in Lebensgefahr zurück

In der Nacht von Mittwoch (11.05.22) auf Donnerstag erreichte die SEA-EYE 4 ein Notruf über die Organisation AlarmPhone. 24 Menschen waren in einem kleinen Holzboot in der maltesischen Such- und Rettungszone in Seenot und riefen um Hilfe. Die Menschen gaben an, bereits am 08.05.2022 von Benghazi geflüchtet zu sein. Sie stammen aus Eritrea, Sudan, Chad, Libyen, Syrien und Ägypten. Die maltesische Rettungsleitstelle verweigerte auch in diesem Fall die Koordinierung der Rettungsmaßnahmen. 

Im Laufe des Donnerstags (12.05.22) näherte sich der Öltanker ROSS SEA dem Holzboot. Während des Funkverkehrs zwischen der SEA-EYE 4 und der ROSS SEA erklärte der Kapitän der ROSS SEA, dass er versuchte die Rettungsleitstelle in Malta zu erreichen, aber zeitweise keine Antwort erhielt. Der Kapitän der ROSS SEA funkte der SEA-EYE 4: “RCC Malta told me to keep on monitoring. They asked me to just stay around and keep on monitoring from distance.” 

Boot

„Auch wir erhalten regelmäßig bei Seenotfällen keine Antworten der Rettungsleistelle auf Malta. Warum hat Malta die ROSS SEA nicht direkt dazu aufgefordert, die Menschen zu retten? Malta schickte drei Tage keine Hilfe! Malta schreckt inzwischen vor nichts zurück, um schutzsuchende Menschen davon abzuhalten, Malta erreichen zu können“, sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e. V.

Hätte Malta die Rettung koordiniert und von der ROSS SEA, deren nächster Zielhafen die maltesische Hauptstadt Valletta gewesen wäre, durchführen lassen, hätte Malta die schutzsuchenden Menschen aufnehmen müssen, denn Malta war der nächste sichere Ort und der Zielhafen der ROSS SEA.

„In den vergangenen Tagen sind wir erneut Zeugen geworden, wie Malta sogar Handelsschiffe, die Hilfe leisten müssen, weil sie rechtlich dazu verpflichtet sind,  anweist, zu schutzsuchenden Menschen in Seenot Distanz zu halten. Diese Methoden sind unmenschlich und verstoßen gegen die grundlegenden Menschenrechte“, so Isler weiter.

Geflüchtete

Die SEA-EYE 4 erreichte das Holzboot in der Nacht zum Freitag (13.05.22). Die Crew konnte alle 24 Menschen sicher an Bord nehmen und erstversorgen.

Sie sind alle extrem erschöpft. Die meistens waren durchnässt und unterkühlt. Man merkt ihnen an, dass sie nach sechs Tagen auf dem Wasser psychisch traumatisiert sind“, sagt Daniela Klein, Einsatzärztin von German Doctors an Bord der SEA-EYE 4.

Bereits am 08.05.22 hatte die SEA-EYE 4 34 Menschen vom Frachtschiff BSG BAHAMAS übernommen, dessen Crew die Flüchtenden aus einem kleinen Holzboot gerettet hatte. Auch in diesem Fall hatte Malta die Koordinierung des Rettungseinsatzes abgelehnt, sodass das MRCC Bremen eingesprungen war. Nun ist die SEA-EYE 4 auf der Suche nach einem sicheren Hafen für die insgesamt 58 schutzsuchende Menschen.

Geflüchtete

Hapag-Lloyd Containerschiff BERLIN EXPRESS erhält keine Hilfe von Malta

Am Freitagabend (06.05.2022) meldete die Organisation Alarm Phone einen Seenotfall in internationalen Gewässern nördlich von Benghazi. Das Containerschiff BERLIN EXPRESS von der Hamburger Reederei Hapag-Lloyd war das erste Schiff am Unglücksort und fand ein kleines, überfülltes Holzboot mit 34 Menschen. Der Vorfall ereignete sich in der maltesischen Such- und Rettungszone. Die maltesische Rettungsleitstelle verletzte jedoch wiederholt ihre Koordinierungspflichten und verwies auf die Zuständigkeit des Flaggenstaates. Die BERLIN EXPRESS fährt unter deutscher Flagge und hat ihren Heimathafen in Hamburg.

Das Hamburger Containerschiff konnte aufgrund des Wetters und insbesondere wegen der Höhe des Freibords die Menschen nicht direkt retten, ohne deren Leben zusätzlich zu gefährden. Die  Crew der BERLIN EXPRESS versorgte die Schutzsuchenden mit Lebensmitteln sowie Trinkwasser, ließ eine Rettungsinsel zu Wasser und blieb bis zu deren Rettung bei den 34 Menschen. Gegenüber Sea-Eye erklärte eine Mitarbeiterin von Hapag-Lloyd, dass ein Crewmitglied dabei verletzt wurde. Nach Rückkehr und Behandlung auf der BERLIN EXPRESS geht es dem Crewmitglied gut.

Boat

Die deutschen Behörden kontaktierten Sea-Eye’s Einsatzleitung am Samstagvormittag, um nach Lösungen für die schwierige Situation zu suchen. Die SEA-EYE 4 war zu diesem Zeitpunkt 40 Stunden vom Unglücksort entfernt.

Am Samstagnachmittag kontaktierte die deutsche Rettungsleitstelle MRCC Bremen die SEA-EYE 4 und bat darum, der BERLIN EXPRESS Hilfe zu leisten. Die SEA-EYE 4 verließ daher ihr Einsatzgebiet östlich von Tripolis und nahm Kurs auf die Position der BERLIN EXPRESS.

Mehrere Handelsschiffe erreichten die BERLIN EXPRESS noch vor der SEA-EYE 4. Darunter auch die BSG BAHAMAS, die von der Hamburger CPO Containerschiffreederei GmbH & Co. KG gemanagt wird. Sonntagmittag gelang es der Besatzung der BSG BAHAMAS schließlich, die Rettung der 34 Menschen durchzuführen und auf die BSG BAHAMAS zu evakuieren. Zu diesem Zeitpunkt waren die Menschen bereits vier Nächte auf See.

BSG BAHAMAS

Die von uns gemanagte BSG Bahamas wurde auf dem Weg von Alexandria nach Tanger Med westlich von Malta von MRCC Bremen aufgefordert, an der Rettung von 34 Personen teilzunehmen. Unser Schiff erreichte die Position nach Einbruch der Dunkelheit, mit 7.20m Freibord und 2m Schwell wurde die umgehende Rettung als zu gefährlich für die zu Rettenden eingestuft. Nach Sonnenaufgang entschied unser Kapitän mit voller Unterstützung seitens der Reederei und enger Kooperation mit dem MRCC Bremen, mit seiner Besatzung die Menschen an Bord zu nehmen und zu versorgen. Bis auf zwei offensichtlich seekranke Personen geht es diesen nach bisherigen Erkenntnissen soweit gut. Wir danken unserem Kapitän und seiner Besatzung für die hervorragende Seemannschaft, Voraussetzung für eine erfolgreiche Durchführung einer derartigen Rettungsaktion“, sagte Ortwin Mühr, Sprecher für die CPO Containerschiffreederei GmbH & Co. KG aus Hamburg.

Die BERLIN EXPRESS konnte ihre Fahrt daraufhin fortsetzen.

Unser Kapitän und seine Besatzung haben einen herausragenden Job gemacht und es stand von der ersten Minute an außer Frage, dass wir den Personen in Seenot so gut wir können helfen“, sagte Silke Muschitz, Head of Fleetmanagement bei Hapag-Lloyd. „Wir möchten uns ganz herzlich für die gute Unterstützung von Sea-Eye bedanken. Unsere Kapitäne waren im ständigen Austausch und die Situation hat uns einmal mehr gezeigt, wie wichtig eine gute Zusammenarbeit bei der Rettung von Personen in Seenot ist“, fügte Muschitz hinzu.

Am späten Sonntagnachmittag traf die SEA-EYE 4 auf die BSG BAHAMAS.  Nachdem der Kapitän des Containerschiffes die SEA-EYE 4 um die Übernahme der Geretteten gebeten hatte, besuchte das gemeinsame medizinische Team von Sea-Eye und German Doctors die BSG BAHAMAS, um die Situation beurteilen zu können.  Beide Schiffsleitungen waren sich darüber einig, dass die 34 Geretteten auf dem Rettungsschiff SEA-EYE 4 besser versorgt und medizinisch behandelt werden können, als auf einem Containerschiff.  Deshalb übernahm die SEA-EYE 4 alle 34 Geretteten am frühen Sonntagabend.  Die SEA-EYE 4 verfügt über ein trainiertes, medizinisches Team, ein Bordhospital, genügend Proviant und Schlafplätze für die 34 völlig erschöpften Überlebenden, die nun schon rund vier Tage auf See ausharren mussten.

SEA-EYE 4

Ohne die Besatzungen der BERLIN EXPRESS und der BSG BAHAMAS hätten die Menschen keine Chance gehabt, zu überleben. Sie wären verdurstet oder ertrunken“, sagte Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e. V.  „Soweit hätte es nicht kommen dürfen. Der Seenotfall ereignete sich schließlich in der maltesischen Such- und Rettungszone. Erneut lehnte Malta die Verantwortung und Koordinierung ab, sodass die deutsche Rettungsleitstelle in Bremen gezwungen war, einen Seenotfall auf dem Mittelmeer zu koordinieren.

Drohungen in internationalen Gewässern

Am frühen Mittwochmorgen bedrohte die sogenannte libysche Küstenwache das Rettungsschiff SEA-EYE 4 und forderte es dazu auf, „libysches Territorium“ zu verlassen. Die SEA-EYE 4 befand sich zu diesem Zeitpunkt jedoch in internationalen Gewässern, wo sich Schiffe laut internationalen Gesetzen frei bewegen dürfen.

Das libysche Kriegsschiff mit der Kennzeichnung 660 umrundete die SEA-EYE 4 für 50 Minuten mit einem Abstand von etwa 500 Metern und wiederholte seine Drohungen mehrfach, um dann Richtung Westen abzudrehen.

Der Einsatzleiter der SEA-EYE 4 informierte die Seenotleitstelle in Rom und die deutschen Behörden über den Vorfall. Die sogenannte libysche Küstenwache hat in den vergangenen Jahren Rettungsschiffen mehrfach mit Gewaltanwendungen gedroht und sogar Warnschüsse abgegeben. Auch laufende Rettungseinsätze wurden von der sogenannten libyschen Küstenwache immer wieder gestört, in einigen Fällen sind dadurch Menschen ertrunken.

Sogenannte libysche Küstenwache

Die EU-Mitgliedsstaaten finanzieren die sogenannte libysche Küstenwache, um Menschen von der Flucht aus Libyen abzuhalten. Damit unterstützen diese EU-Staaten gewaltbereite und unberechenbare Akteure. Diese skrupellosen Milizen sind ein politisches Werkzeug. Jedes Mal wenn die sogenannte libyschen Küstenwache Menschen in den Bürgerkrieg zurück verschleppt, Rettungen behindert oder Seenotretter*innen bedroht, dann müssen sich die EU-Mitgliedsstaaten einen bedeutenden Anteil an Verantwortung für diese Verbrechen zurechnen lassen. Die EU muss die Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache beenden und für sichere Fluchtwege für alle schutzsuchenden Menschen sorgen“, sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e. V.

Sogenannte libysche Küstenwache