Jugendliche berichten über Diskriminierung und schwere Gewalt in Libyen

Unter den 29 geretteten Personen an Bord der SEA-EYE 4 befanden sich auch Ahmed*, Ali*, Samul* und Khalil*. Zwei von ihnen sind 16 Jahre, die anderen beiden 17 Jahre alt. Das Heimatland der vier Jugendlichen ist Guinea. (*Namen geändert)

Eines Nachmittags stimmte Ahmed ein Lied an, dass von einer Welt ohne Grenzen handelte. Danach dichtet er spontan ein paar Zeilen über die SEA-EYE 4.

Im anschließenden Gespräch mit unserem Crewmitglied Johanna fallen sich die vier Minderjährigen immer wieder gegenseitig ins Wort, während sie von ihren Erlebnissen in Libyen berichten. Sie erzählen, dass sie sehr viel Diskriminierung erfahren hätten. Als Schwarze Person sei man „nichts wert gewesen“.

Geflüchtete an Bord der SEA-EYE 4

So hätten die Menschen vor Ort die Jugendlichen beispielsweise nicht berühren wollen oder sich das T-Shirt über die Nase gezogen und lediglich „Corona“ gesagt. Häufig suchten sie am Morgen eine Arbeit, doch nicht selten wurden sie am Abend dann nicht bezahlt. Khalil berichtet, dass sie sich nachts zum Schlafen verstecken mussten. Ahmed zeigt Narben an seinen Armen, die ihm während seines Aufenthalts zugefügt wurden. Ali betont jedoch, dass nicht alle Menschen in Libyen schlecht seien, woraufhin auch Ahmed von einer Begegnung mit einem Imam berichtet, der ihm geholfen hat.

Doch viele Menschen hätten Waffen, sagt Samul. Er habe selbst gesehen, wie jemandem wegen eines Handys in den Arm geschossen wurde. Alle vier wurden Zeugen davon, wie jemand erschossen wurde.

Nach all den schrecklichen Geschehnissen, die die vier während ihrer bisherigen Flucht ertragen mussten, stehen sie nun Seite an Seite an der Reling und singen gemeinsam auf das Meer hinaus. In der Hoffnung, dass sie schon bald an einen sicheren Ort gelangen. 

Geflüchtete Frauen berichten an Bord über ihr Leben in Libyen

Die Crew der SEA-EYE 4 hat vor wenigen Tagen 29 Menschen aus einem kleinen Holzboot gerettet. Unter ihnen sind acht Frauen, davon zwei im neunten Monat schwanger. Bei ihnen sind auch vier Babys.

Unsere Crewmitglieder Johanna und Kai haben mit den geflüchteten Frauen gesprochen. Dabei fällt auch immer wieder ein Wort: Hölle. Dieses Wort wurde für Libyen in den letzten Jahren sehr häufig benutzt, man hat sich fast daran gewöhnt. Aber wenn Johanna und Kai den geflüchteten Frauen zuhören, füllt sich dieser abstrakte Begriff wieder mit neuem Grauen.

Die Frauen an Bord berichten, dass Schwarze Menschen in Libyen häufig gekidnappt werden. Sie selbst lebten in ständiger Angst und haben sich kaum aus dem Haus getraut. Die jungen Frauen fürchteten sich aber nicht nur davor, entführt, sondern auch vergewaltigt zu werden. „Es passiert wirklich!“, betonten sie, als sie von ihrer Zeit in Libyen berichteten.

Was sie erzählen, deckt sich mit Berichten beispielsweise von der UN, Amnesty International oder Oxfam aus den vergangenen Jahren. Seit 2011 herrscht in Libyen Bürgerkrieg, in dem flüchtende Menschen entrechtet sind und unter schweren Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Inhaftierungen, Entführungen, Vergewaltigungen, Folter, Sklaverei und Tötungen leiden.

Trotz des Schreckens haben die Augen von Adissa, eine der hochschwangeren Frauen, und Maya (Namen zu ihrem Schutz geändert) ihr Strahlen nicht verloren. So berichteten sie neben all der Angst, die sie ausgestanden haben, begeistert, auf welche Art und Weise sie am liebsten Reis und Couscous zubereiten.

Aufziehender Starkwind verhindert weitere Rettungseinsätze

Die Crew der SEA-EYE 4 rettete am 1. September 29 Menschen aus akuter Lebensgefahr. Die Wache der SEA-EYE 4 entdeckte die Menschen am Mittwochmorgen mit dem Fernglas. Die aus Libyen flüchtenden Menschen saßen dicht gedrängt in einem kleinen, überfüllten Holzboot. Unter ihnen sind 18 Minderjährige, davon sind vier Babys, und acht Frauen. Zwei Frauen sind im neunten Monat schwanger.

Kurz nach der Rettung verschlechterte sich das Wetter, ein Tiefdruckgebiet zog auf und Starkwind kündigte sich an.

Die geretteten Personen hatten kein Satellitentelefon bei sich. Sie hatten unwahrscheinliches Glück, dass wir sie gefunden haben. Hätten wir sie nicht entdeckt, wären sie der unruhigen See schutzlos ausgeliefert geblieben“, berichtet Sophie Weidenhiller, Sprecherin von Sea-Eye e. V.

Die Einsatzleitung entschied am Donnerstagabend, die geretteten Menschen zügig in Sicherheit zu bringen. Besonders die beiden hochschwangeren Frauen und die Babys müssen nun schnellstmöglich an Land gebracht und medizinisch versorgt werden.

Es wäre aus unserer Sicht unverantwortlich, den Frauen eine Geburt bei schwerer See in einem Schiffshospital zuzumuten“, so Weidenhiller.

Sea-Eye informiert ständig die örtlichen Behörden über die akute Situation. Die italienische Küstenwache lehnte die Koordinierung am Donnerstagabend ab und verwies auf die Zuständigkeit der deutschen Behörden für die SEA-EYE 4.

Wir sind dankbar, dass die Crew der SEA-EYE 4 diese 29 Menschen retten konnte.  Zwar sind alle Geflüchteten in einer stabilen gesundheitlichen Verfassung, insbesondere für die zwei hochschwangeren Frauen und die vier Babys ist die Situation aber extrem belastend – zugespitzt nun auch noch durch die raue See und den starken Wind. Die Entscheidung, die Menschen direkt in einen sicheren Hafen zu bringen, ist die einzig richtige“, so Dr. Harald Kischlat, Vorstand German Doctors e. V.

Die SEA-EYE 4 hält nun Kurs auf die italienische Insel Sizilien und wird die italienischen und deutschen Behörden weiter um Hilfe bitten.