#LeaveNoOneToDie

SEA-EYE 4 rettete am Dienstagabend weitere 32 Menschenleben

Am Dienstagabend rettete die Crew der SEA-EYE 4 weitere 32 Menschen aus einem seeuntüchtigen Holzboot. Der Seenotfall war zuvor von einer Segelyacht gemeldet worden. Zu diesem Zeitpunkt war die SEA-EYE 4 bereits auf der Suche nach einem Seenotfall in der maltesischen SAR-Zone (Such- und Rettungszone), bei dem sich an Bord eines großen Holzboots rund 400 Menschen in Lebensgefahr befanden. Das völlig überladene Holzboot war, nachdem es einen Notruf abgesetzt hatte, vom zivilen Suchflugzeug SEABIRD entdeckt worden. Die Betreiberin des Suchflugzeugs, Sea-Watch, dokumentierte die Sichtung auf Twitter.

Das Holzboot mit 400 Menschen an Bord konnte in der Nacht zum Mittwoch in dem großen Suchgebiet von der SEA-EYE 4 nicht gefunden werden. Glücklicherweise erreichten die Menschen die italienische SAR-Zone aus eigener Kraft und wurden dort am Mittwochmorgen von der italienischen Küstenwache gerettet. Malta hatte die hunderten Menschen in Lebensgefahr vollständig ignoriert und koordinierte den Seenotfall nicht, obwohl sich die Menschen viele Stunden in der maltesischen SAR-Zone in Seenot befanden und Malta zweifelsfrei zuständig war.

Holzboot
Holzboot mit 32 Menschen

Das Eingreifen der italienischen Küstenwache zeigt, dass die Rettung unbedingt notwendig war. Man muss sich klarmachen, dass keine europäische Behörde so einem Schiff gestatten würde, einen europäischen Hafen zu verlassen, um irgendeinen anderen Ort über das Meer erreichen zu wollen. Diese Menschen waren vom Zeitpunkt des Ablegens in größter Gefahr. Die vielen Todesopfer des Schiffsunglücks vor Crotone zu Beginn des Jahres zeigen, die furchtbaren Konsequenzen, wenn staatliche Akteure zu spät reagieren. Es ist ein Skandal, dass Malta seit Langem in der eigenen Such- und Rettungszone für Menschen auf der Flucht keine Rettungseinsätze durchführt“, sagt Jan Ribbeck, Missionsleiter der laufenden SEA-EYE 4-Mission.

Als SEABIRD den Notruf meldete, war die SEA-EYE 4 mit 17 Menschen, die bereits am Sonntag aus einem Holzboot gerettet worden sind, auf dem Weg nach Ortona. Der rund 1.300 nautische Meilen entfernte Hafen wurde dem Schiff unmittelbar nach der Rettung der 17 Menschen durch die italienische Seenotleitstelle zugewiesen.

Trotz erfolgreicher Rettung von insgesamt 49 Menschenleben drohen Sea-Eye nun hohe Strafen. Denn die italienische Regierung verabschiedete am 24. Februar ein Gesetz, das es Rettungsschiffen nicht ohne Weiteres gestattet, mehrere Rettungen hintereinander durchzuführen.

Rettungseinsatz

Die völkerrechtliche Verpflichtung, Menschen in Seenot zur Hilfe zu kommen, wiegt schwerer als nationale Gesetze. Wenn Sea-Eye nun bestraft wird, dann vor allem deshalb, weil maltesische Behörden ihre koordinierenden Pflichten nicht mehr wahrnehmen und schutzsuchende Menschen in der maltesischen Such- und Rettungszone sich selbst überlassen bleiben. Auf unserem Schiffsrumpf steht das Versprechen #LeaveNoOneToDie. Es ist kein leeres Versprechen. Deshalb haben wir das Schiff auf dem Weg nach Ortona gewendet, was 32 Menschen das Leben rettete“, sagte Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e. V.

Die GEO BARENTS von Ärzte ohne Grenzen wurde in diesem Jahr bereits mit einer solchen Strafe von 10.000 € und einer Festsetzung des Schiffes für 30 Tage sanktioniert. Sea-Eye befürchtet nun, dass weitere zivile Ressourcen der Organisation durch staatliche Restriktionen beschädigt werden. Die aktuellen Missionen sind ohnehin finanziell sehr viel aufwendiger, weil Italien den zivilen Seenotrettungsschiffen seit Ende 2022 immer weit entfernte Häfen zuweist, um die Schiffe aus dem Einsatzgebiet fernzuhalten.

Seenotretter*innen kritisieren Bundesregierung für geplante Asylrechtsverschärfungen

Die SEA-EYE 4 ist am Freitagabend (19.05.2023) nach einem planmäßigen Wartungsintervall und einem Trockendock-Aufenthalt  von Burriana zur zweiten Rettungsmission in 2023 Richtung Zentrales Mittelmeer aufgebrochen. Dort wird das Rettungsschiff dringend benötigt, denn alleine in diesem Jahr sind bereits über 1.000 Menschen bei der Suche nach Schutz ums Leben gekommen. 

Gleichzeitig wird in Deutschland über eine geplante Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) diskutiert, nachdem die Bundesregierung ihre Zustimmung zu diesem faktischen Rückzug aus dem Flüchtlingsschutz in der Europäischen Union signalisiert hat. Gemeinsam mit über 50 weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen hat Sea-Eye e.V. einen Appell an die Bundesregierung gerichtet, in dem das Bündnis die Ampelkoalition und speziell Innenministerin Nancy Faeser (SPD) dazu auffordert, ihrer humanitären Verantwortung gerecht zu werden und zentrale Versprechen ihres Koalitionsvertrages einzuhalten. 

Wenn die Bundesregierung der GEAS-Reform im Juni zustimmt, dann werden alle Minister*innen der Ampelkoalition zusammen für die weitreichendsten Asylrechtsverschärfungen der Nachkriegsgeschichte verantwortlich sein und gegen den eigenen Koalitionsvertrag verstoßen. Wir fordern die Bundesregierung deshalb eindringlich dazu auf, von den geplanten Änderungen abzulassen und endlich zu einer menschenrechtsbasierten Politik zurückzukehren. ”, sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V.  

Auch dieses Mal begleitet eine German Doctors-Einsatzärztin die Mission als Bordärztin. Die Organisationen Sea-Eye e.V. und German Doctors arbeiten mittlerweile im dritten Jahr zusammen, um möglichst viele Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Wie oft die SEA-EYE 4 in 2023 ablegen kann, bleibt weiter unklar. Denn noch ist keine der kommenden vier geplanten Missionen in 2023 ausfinanziert.  

Bevor die SEA-EYE 4 in den aktuellen Einsatz starten konnte, lag das Schiff im Trockendock. Dort wurden Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten durchgeführt sowie die Zulassung des Schiffs erneuert. Der Großteil der Kosten für die Werft wurde von United4Rescue getragen. Das von der EKD initiierte Bündnis zur Unterstützung der zivilen Seenotrettung wandte insgesamt 200.000€ auf, um sein zweites Bündnis-Schiff für den Rest des Jahres einsatzbereit zu machen.

Wir sind dem Bündnis United4Rescue und allen Partner*innen, die das Bündnis für zivile Seenotrettung tragen, unendlich dankbar für die entscheidende Unterstützung in dieser besonders aufwendigen Werftzeit. „Es ist wichtig, dass unsere SEA-EYE 4 nun endlich wieder einsatzbereit ist”, sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V.  

Frontex in der Ägäis (Credit: IMAGO / ZUMA Press)

Teil 7 Frontex außer Kontrolle

Autor: Matthias Monroy

Niemand kann der EU-Grenzagentur Weisungen erteilen, so steht es in ihrer Verordnung. Auch aus diesem Grund muss Frontex abgeschafft werden. Die EU muss außerdem den Friedensnobelpreis zurückgeben.

In den 18 Jahren ihres Bestehens hat sich Frontex grundlegend verändert. Aus der Einrichtung, die den Grenzpolizeien der Mitgliedstaaten koordinierend zur Seite stehen sollte, ist ein mächtiger Apparat mit einer eigenen Polizeitruppe geworden. Die neuen Verordnungen von 2016 und 2019 haben ihre Fähigkeiten abermals beträchtlich erweitert. Das Kontrolldefizit hat sich damit weiter vergrößert.

Frontex ist eine unabhängige Agentur mit eigener Rechtspersönlichkeit, so haben es die EU-Mitgliedstaaten einst beschlossen. Ein umfassendes Weisungsrecht, über das in Deutschland beispielsweise Innenminister:innen für die Polizeibehörden verfügen, existiert für Frontex nicht. Ihr Direktor ist „in der Wahrnehmung seiner Aufgaben völlig unabhängig“, so steht es sogar in der Verordnung von Frontex.

Frontex soll die Grundrechte-Charta der EU und das Völkerrecht achten. Dies wird allerdings von der Leitung beständig ignoriert. Es ist aber äußerst schwierig, Frontex zu einem Kurswechsel zu zwingen. Dies wurde deutlich, nachdem verschiedene internationale Medien Beweise vorlegten, wie Griechenlands Küstenwache in großem Umfang Geflüchtete völkerrechtswidrig in die Türkei zurückschiebt. Daran sind auch Einheiten beteiligt, die EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der Frontex-Mission „Poseidon“ nach Griechenland entsandt haben.

Gemäß Artikel 46 der Frontex-Verordnung kann der Direktor bei offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen in einem Gaststaat einen dortigen Einsatz beenden. Neben Griechenland sind derartige Verstöße unter anderem für Kroatien belegt. Der amtierende Direktor Hans Leijtens weigert sich trotzdem, den Artikel 46 in den beiden Ländern zu aktivieren und Frontex abzuziehen.

Als „Hüterin der Verträge“ soll die EU-Kommission die Umsetzung des europäischen Rechts überwachen. Frontex muss dazu in Brüssel regelmäßig Berichte vorlegen. Allerdings ist auch die Kommission gegenüber Frontex nicht anordnungsbefugt.

Das EU-Parlament soll Frontex zwar kontrollieren, hat dazu aber außer der Freigabe oder Zurückhaltung von Haushaltsmitteln kaum Kompetenzen. Zwar kann der Direktor zu Anhörungen geladen werden, Weisungen können ihm aber auch die Abgeordneten nicht erteilen. Zudem ist das Parlament auch keine Firewall für die Einhaltung der Menschenrechte, das hat die „Frontex Scrutiny Working Group“ belegt. Der parlamentarische Sonderausschuß sollte die bekannt gewordenen Pushbacks in Griechenland untersuchen, der anschließend vorgelegte Abschlußbericht hat jedoch die grundsätzliche Ausrichtung der Agentur nicht infrage gestellt und wurde sogar von Frontex feixend begrüßt.

Auch Gerichte konnten den Kurs von Frontex bislang nicht korrigieren. Die Agentur kann beispielsweise nicht vor dem Menschenrechtsgerichtshof des Europarates zur Rechenschaft gezogen werden. Denn die EU hat – anders als alle Mitgliedsstaaten – die Europäische Menschenrechtskonvention nicht unterzeichnet. Das wird insbesondere zum Problem, wenn Frontex nun über eigene, bewaffnete Polizeieinheiten verfügt.

Über einige Möglichkeiten zur Einflußnahme verfügt der Frontex-Verwaltungsrat, in den jeder EU-Mitgliedstaat sowie die Kommission je zwei Vertreter:innen entsenden. Dort werden aber nur strategische Entscheidungen über die Weiterentwicklung der Agentur getroffen, das Tagesgeschäft der Grenzagentur bleibt außen vor. Allerdings kann der Verwaltungsrat Druck auf den Direktor ausüben, denn dieser wird von ihm ernannt – und auch abberufen, wenn nötig. Diese Macht haben die Mitgliedstaaten bislang nur gegenüber dem damaligen Direktor Leggeri genutzt: Nachdem immer mehr Skandale über ihn offenkundig wurden und sogar das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung deshalb ermittelte, haben die Regierungen Leggeri zum Rücktritt gedrängt.  

Frontex bleibt aber auch unter Hans Leijtens ein Symbol der brutalen EU-Migrationspolitik. Ihre Einsätze tragen maßgeblich dazu bei, dass etwa das Mittelmeer zur tödlichsten Grenze der Welt geworden ist. Wer wie die EU tatsächlich die Menschenrechte in den Mittelpunkt stellen will, muss die Abschaffung von Frontex vorantreiben. 2012 erhielt die EU den Friedensnobelpreis mit der Begründung, sie habe 60 Jahre lang zur Befriedung Europas beigetragen. Diese Auszeichnung muss die EU zurückgeben, wie das Netzwerk „Abolish Frontex“ zurecht fordert, denn ihre Migrationspolitik ist einer Friedensnobelpreisträgerin unwürdig.


Der Autor: Matthias Monroy

Matthias Monroy hat viele Jahre im Deutschen Bundestag für einen Abgeordneten zum Thema gearbeitet. Inzwischen ist er Redakteur für Netzpolitik.org und das Neue Deutschland. Monroy arbeitet weiter u.a. zu den Themen Polizeiarbeit in der Europäischen Union, Migrationskontrolle, Internetüberwachung, Satellitenaufklärung und Drohnen.


Wir brauchen Ihre Unterstützung!

Seit 2016 konnten wir über 17.000 Menschen im Mittelmeer retten. Unter ihnen waren Familien, Schwangere, kleine Kinder und Menschen, die ganz alleine unterwegs waren. Helfen Sie uns dabei, auch zukünftig Rettungsmissionen durchführen zu können, und werden Sie Dauerspender*in.

Frontex

Symbolbild: Hunderte Pushbacks sind aus Griechenland dokumentiert, der neue Grundrechtrechtsbeauftragte will deshalb mehr statt weniger Frontex-Personal entsenden (Kripos_NCIS, CC BY-ND 2.0).

Teil 6 Grundrechtsbeauftragte kaltgestellt

Autor: Matthias Monroy

Der massive Ausbau von Frontex sollte mit der Anstellung von Grundrechtebeobachter*innen einhergehen, dies hatte der damalige Direktor Fabrice Leggeri aber verschleppt. Es fragt sich, was dieses Personal überhaupt ausrichten soll.

Seit ihrer Gründung steht Frontex in der Kritik, Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen entweder selbst vorzunehmen, diese zu unterstützen oder zu begünstigen. Der rasante Ausbau der Agentur mit immer mehr Fähigkeiten, Kompetenzen und finanziellen Mitteln hat dieses Problem verschärft.

Laut der Verordnung von 2016 sollte der Frontex-Direktor deshalb eine neue Grundrechtsstrategie entwickeln und Vorschläge für einen Mechanismus ausarbeiten, um die Achtung von Grund- und Menschenrechten „bei allen Tätigkeiten der Agentur“ zu überwachen. Konkreter wird der Gesetzestext nicht – so dauerte es ganze fünf Jahre, bis Frontex die geforderte Strategie vorgelegt hat.

In der 2019er Verordnung ist schließlich bestimmt, dass Frontex eine größere Zahl an „Grundrechtebeobachtern“ einstellen und ausbilden soll. Ihre Auswahl erfolgt durch den oder die Grundrechtsbeauftragte bei Frontex. Zunächst hielt die Verordnung fest, dass Frontex bis zum 5. Dezember 2020 mindestens 40 Beobachter*innen für die Achtung der Grundrechte einstellen sollte. Während der damalige Frontex-Chef Fabrice Leggeri den Aufbau seiner bewaffneten „Ständigen Reserve“ mit Hochdruck vorantrieb, war zum Stichtag keine einzige der geforderten Stellen besetzt.

Fraglich ist auch, was dieses Personal überhaupt leisten kann. Einsätze sollen beispielsweise auch als „Rückführungsbeobachter“ bei Abschiebungen erfolgen.

Meldungen über etwaige Vorfälle schicken die Beobachter*innen an den oder die Grundrechtsbeauftragte bei Frontex. Dabei handelt es sich um sogenannte „Berichte über schwerwiegende Vorfälle“ („Serious Incident Reports“ – SIR), die schon jetzt von allen Beteiligten einer Frontex-Mission erstellt werden können. Sie enthalten Informationen über mögliche Menschenrechtsverletzungen, Straftaten oder „Verfehlungen“ bei einem Einsatz. SIRs können auch erfolgen, wenn Vorfälle „eine hohe politische, diplomatische, operative oder mediale Relevanz entfalten“ oder „die öffentliche Sicherheit und Ordnung an den europäischen Außengrenzen beeinträchtigen“. Anschließend können die Grundrechtsbeauftragten eigene Untersuchungen anstellen und darüber den Direktor informieren.

Jedoch ist das Amt zahnlos. Niemand weiß das vermutlich besser als die Juristin In­ma­culada Arnáez, die 2012 als Grundrechtsbeauftragte berufen wurde. Immer wieder hat sie Verletzungen des Rechts auf Menschenwürde, auf Leben, auf Unversehrtheit der Person und des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung angemahnt. Wegen schweren Grundrechtsverletzungen in Ungarn hatte Arnáez gefordert, den Frontex-Einsatz dort zu beenden – dazu brauchte es aber erst ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes Anfang 2021.

Wie gering Frontex ihre Grundrechtsbeauftragten schätzt, belegt auch der Bericht der EU-Betrugsbekämpfungsbehör­de OLAF, über den der „Spiegel“ im Herbst 2022 zuerst geschrieben hatte. Die Ermittler hatten die Machenschaften der Agentur und ihres damaligen Direktors untersucht. Laut ihren Erkenntnissen hat die Frontex-Führung dafür gesorgt, dass die damalige Beauftragte Arnáez über Verdachtsfälle gar nicht erst informiert wurde. Die Spanierin sei als „Diktatorin“ geschmäht worden, die mit Nichtregierungsorganisationen paktiere. Ab 2019 betrieb Leggeri schließlich die Absetzung von Arnáez.

Ihr Nachfolger ist seit Juni 2021 der aus Schweden stammende Jonas Grimheden. Er überrascht seit einigen Monaten mit dem Vorschlag, bei Men­schenrechtsverletzungen in einem Gaststaat einen dortigen Frontex-Einsatz nicht zu beenden, sondern im Gegenteil mehr Personal dorthin zu entsenden. Die Agentur komme mit Beamt*innen aus anderen Ländern als jenem, in dem die Verstöße passierten, erläutert er die Vorteile seiner Idee. Sie seien daher unabhängiger von dortigen nationalen Interessen und könnten allein durch ihre Anwesenheit Druck ausüben. Würden Einsätze beendet, fehle es an dieser „Hebelwirkung“, so der Beauftragte.

Grimheden geht dabei davon aus, dass etwaige Verstöße nicht durch das Frontex-Personal selbst, sondern vor allem durch Polizist*innen des Gaststaates erfolgen. Dabei gerät jedoch aus dem Blick, dass auch Frontex selbst immer unkontrollierbarer wird. Dieses Defizit, das der EU-Grenzagentur bei ihrer Gründung quasi ins Gesetz geschrieben wurde, beschreibt die nächste und letzte Folge unserer Frontex-Serie.


Der Autor: Matthias Monroy

Matthias Monroy hat viele Jahre im Deutschen Bundestag für einen Abgeordneten zum Thema gearbeitet. Inzwischen ist er Redakteur für Netzpolitik.org und das Neue Deutschland. Monroy arbeitet weiter u.a. zu den Themen Polizeiarbeit in der Europäischen Union, Migrationskontrolle, Internetüberwachung, Satellitenaufklärung und Drohnen.

Symbolbild: Die „Ständige Reserve“ wird von Frontex mit Uniformen und Waffen ausgestattet. (Credit: IMAGO / ZUMA Press)

Teil 5 Frontex erschafft die erste uniformierte EU-Polizeitruppe

Autor: Matthias Monroy

Die bislang letzte Änderung der Frontex-Verordnung erfolgte 2019. Der Grenzagentur wird darin erlaubt, eine „Ständige Reserve von insgesamt 10.000 Beamt*innen aufzubauen. Damit verabschiedet sich die Europäische Union endgültig von dem alten Grundsatz, dass Frontex ausschließlich Polizeien aus den Mitgliedstaaten koordinieren soll.

7.000 Angehörige der „Ständigen Reserve“ werden wie bisher aus den EU-Ländern zu Frontex entsandt und dort entweder in Kurz- oder Langzeitmissionen eingesetzt. 3.000 Beamt*innen werden jedoch zukünftig direkt aus Warschau kommandiert. Sie tragen eigens entworfene Uniformen und Waffen von Frontex und werden mit Schlagstöcken, Handschellen, Pfefferspray und kugelsicheren Westen ausgerüstet. Den Zuschlag erhielt der Waffenhersteller Glock aus Österreich und liefert 2.500 halbautomatische Pistolen. Einen weiteren Auftrag über die Lieferung von 3,6 Millionen Schuss Munition erhielten polnische Firmen.

Frontex soll zudem mehr Daten verarbeiten dürfen. Auch dies ist in der 2019er Verordnung geregelt. Das betrifft in erster Linie visumfreie Reisende aus 60 Staaten, die zukünftig vor Überqueren einer EU-Grenze ein Antragsformular ausfüllen müssen. Nächstes Jahr nimmt die Europäische Union dazu das „Reisegenehmigungssystem“ ETIAS in Betrieb. Ein Bewertungssystem ermittelt auf Basis des Formulars mögliche Risiken im Hinblick auf irreguläre Migration, sonstige Sicherheitsbelange oder auch Epidemien. Zuständig dafür sind rund 250 Beamt*innen, die dazu bei Frontex angestellt werden.

Außerdem darf Frontex zukünftig unter alleiniger Verantwortung Abschiebeflüge durchführen und errichtet dazu ein „Europäisches Rückkehrzentrum“. Es soll den Mitgliedstaaten ein „komplettes Dienstleistungsangebot“ für Abschiebungen anbieten. Frontex kümmert sich um die Vorbereitung und Durchführung der Flüge. Die hierfür aufgestellten „Begleit- und Unterstützungsbeamten für Abschiebungen“ gehören zur „Ständigen Reserve“.

In einer ersten, vollständig von der Agentur initiierten und organisierten „Rückführungsaktion“ schob Frontex vor einem Jahr 40 albanische Staatsangehörige nach Tirana ab. Das gecharterte Flugzeug startete in Madrid, bei einer Zwischenlandung in Rom wurden weitere Personen an Bord gebracht. Zur Debatte steht jetzt, dass Frontex eigene Abschiebeflugzeuge anschafft.

Mit der Neuordnung in den Bereichen „Ständige Reserve“, „Informationsmanagement“ und „Rückkehrzentrum“ erhielt Frontex auch eine neue Struktur zur Leitung. Dem Exekutivdirektor stehen fortan drei Vizedirektor*innen zur Seite. Für die Grenztruppe ist die aus Lettland stammende Aija Kalnaja zuständig, die Datenverarbeitung leitet Uku Särekanno aus Estland. Den Posten des neuen Abschiebechefs erhielt der deutsche Bundespolizist Lars Gerdes. Gerdes leitete zuvor die Ausbildungsmission der Bundespolizei in Afghanistan.

Bei Frontex war Gerdes zudem stellvertretendes deutsches Mitglied im Verwaltungsrat. Das Gremium trifft Entscheidungen für die Entwicklung von Frontex, jeder EU-Mitgliedstaat entsendet dafür zwei stimmberechtigte Mitglieder nach Warschau. Eine effektive Aufsicht über die immer mehr entfesselte Grenzagentur kann aber auch der Verwaltungsrat nicht ausüben. Von diesem Kontrolldefizit handelt die nächste Folge.


Der Autor: Matthias Monroy

Matthias Monroy hat viele Jahre im Deutschen Bundestag für einen Abgeordneten zum Thema gearbeitet. Inzwischen ist er Redakteur für Netzpolitik.org und das Neue Deutschland. Monroy arbeitet weiter u.a. zu den Themen Polizeiarbeit in der Europäischen Union, Migrationskontrolle, Internetüberwachung, Satellitenaufklärung und Drohnen.

Satellit

Informationen aus der Satellitenüberwachung führt Frontex in Warschau zusammen.

Teil 4 Frontex perfektioniert die Überwachung aus dem All

Autor: Matthias Monroy

Die Aufnahmen von ihren Flugzeugen, Drohnen und Satelliten speist Frontex in EUROSUR ein. Als europaweites Überwachungssystem trägt es seit 2014 Vorkommnisse an den EU-Außengrenzen zusammen. 

Der wichtigste Knoten dieses Netzwerks befindet sich im Frontex-Hauptquartier in Warschau. Dort werden die Informationen von über 40 Mitarbeiter*innen gesichtet und ausgewertet.

EUROSUR ergänzt das in Warschau geführte „Informationsbild des Grenzvorbereichs“. Damit will Frontex weitab der Festung Europa feststellen, wenn sich Menschen dorthin auf den Weg machen. Im Mittelmeerraum ist dieser „Grenzvorbereich“ laut der Europäischen Kommission mehr als 500 Quadratkilometer groß; er kann sich also bis weit in den afrikanischen Kontinent hinein erstrecken.

Die Grenzagentur ist ständig auf der Suche nach neuen Quellen für dieses „Informationsbild“ und forscht an neuen Technologien. Dazu ist Frontex an Vorhaben beteiligt, die von der Europäischen Kommission aus ihrem milliardenschweren Forschungsrahmenprogramm finanziert werden. An vielen weiteren Programmen fungiert Frontex als Tippgeberin oder testet die neu entwickelten Anwendungen zur Grenzüberwachung und -kontrolle.

Frontex lädt außerdem regelmäßig zu sogenannten „Industrietagen“ nach Warschau. Dort werden hochauflösende Sensortechnik, Kameras mit Muster- und Verhaltenserkennung oder futuristisch anmutende Leitstellen gezeigt, in denen die Informationen verarbeitet werden. Die Hersteller tauschen sich mit Innenministerien und Grenztruppen über die neuen Technologien aus und werden anschließend mit großzügigen Restaurantbesuchen belohnt.

Besonderes Augenmerk legt Frontex auf die verbesserte Überwachung aus dem All. Die Agentur will etwa eine „Lücke“ zwischen Drohnen und Satelliten schließen und testet dazu Plattformen zur Überwachung in der Stratosphäre, also in Höhen über 15 Kilometern. Die Europäische Kommission zahlt dafür 5,8 Millionen Euro an den französischen Rüstungskonzern Thales, der nächstes Jahr einen neuen Stratosphären-Zeppelin zum Erstflug startet und bei dieser Premiere Videobilder zu EUROSUR streamt.

Auch beim Konkurrenten Airbus nutzt Frontex ähnliche Technologien. Um die Erde kreisende Satelliten können nur in Sichtweite Daten zum Boden funken. Für eine stets gewährleistete Verbindung nutzt Frontex deshalb eine „Weltraumdatenautobahn“ aus drei Laser-Satelliten. Damit können Bilder aus dem All nahezu in Echtzeit an jeden Ort der Erde übermittelt werden. Frontex war die erste Kundin dieses milliardenschweren Systems.

Auf Satelliten basiert auch das Automatische Identifikationssystem (AIS), mit dem jedes größere Schiff über UKW-Funkfrequenzen regelmäßig seine Identität, den Standort und das Ziel aussenden muss. Diese Daten sind auch für Frontex interessant. Weil manche Schiffe ihre AIS-Transponder ausschalten, setzt Frontex aber zunehmend auf das Aufspüren von elektromagnetischer Strahlung, wie sie etwa von Funkgeräten oder Mobiltelefonen an Bord von Schiffen ausgesendet wird. Neue miniaturisierte Satelliten und das Unternehmen SpaceX von Elon Musk haben die Systeme jetzt nicht nur für private Anbieter sondern auch Grenzbehörden erschwinglich gemacht. Laut einer offiziellen Seenotmeldung hat Frontex auch das im Februar vor der italienischen Küstenstadt Crotone gesunkene Boot anhand der Satellitentechnik entdeckt.

Jedoch erstickt Frontex regelrecht an den vielen neuen Datenquellen. Deshalb fließen viele weitere Millionen Euro in die Auswertung mit Verfahren der Künstlichen Intelligenz. Frontex hat zur Beschaffung dieser auch von Geheimdiensten eingesetzten Technik Verträge mit der israelischen Firma Windward abgeschlossen. Auf ihrer Webseite wirbt sie mit dem Slogan „Fangen Sie die Bösewichte auf See“.

Die wirklichen „Bösewichte auf See“ sind aber die Frontex-Abteilungen in Warschau, die einem immer weiter wachsenden Markt europäischer Rüstungsfirmen zusätzliche Absatzmärkte eröffnen. Die beschriebenen Anwendungen illustrieren den technischen Machbarkeitswahn, mit dem Frontex die Migrationsabwehr perfektionieren will. Davon profitieren auch europäische Waffenhersteller, die nun eine neue Einheit unter Frontex-Kommando ausrüsten. Von dieser ersten und bislang einzigen bewaffneten EU-Polizeitruppe handelt die nächste Folge.


Der Autor: Matthias Monroy

Matthias Monroy hat viele Jahre im Deutschen Bundestag für einen Abgeordneten zum Thema gearbeitet. Inzwischen ist er Redakteur für Netzpolitik.org und das Neue Deutschland. Monroy arbeitet weiter u.a. zu den Themen Polizeiarbeit in der Europäischen Union, Migrationskontrolle, Internetüberwachung, Satellitenaufklärung und Drohnen.

Frontex arbeitet auch mit der sogenannten libyschen Küstenwache zusammen.

Teil 3 WhatsApp nach Libyen

Autor: Matthias Monroy

Seit 2017 überwacht Frontex das zentrale Mittelmeer mit Chartermaschinen und Drohnen. Für die immer mächtigere Agentur ist dieser neue „Mehrzweck-Flugdienst“ von zentraler Bedeutung.

Denn zeitgleich mit dem Aufbau dieser Luftaufklärung zog Frontex ihre Schiffe aus der Region ab und beendete die mehrjährige Operation „Triton“, in deren Rahmen auch die EU-Mitgliedstaaten Zehntausende Menschen im zentralen Mittelmeer aus Seenot gerettet und nach Italien gebracht haben.

Durch eine Hintertür sorgt Frontex nunmehr dafür, dass die Schutzsuchenden wieder in Nordafrika enden. Dazu informiert sie in zunehmenden Umfang libysche Behörden mit dem Auftrag, die Menschen auf Hoher See aufzugreifen und nach Libyen zurückzubringen. Frontex beruft sich darauf, dass dieses Verfahren international vorgeschrieben ist. Das ist aber nur die halbe Wahrheit.

Wenn Pilot*innen oder Kapitän*innen einen Seenotfall feststellen, müssen sie tatsächlich eine festgelegte Routine befolgen. Zuerst müssen jene Leitstellen für die Seenotrettung (Maritime Rescue Coordination Centre, MRCC) benachrichtigt werden, die für das betroffene Gebiet zuständig sind. So steht es im Internationalen Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS), das seit dem Untergang der Titanic in Kraft ist.

Viele Jahre lang hatte Libyen allerdings keine maritime Rettungsleitstelle eingerichtet. Diese Aufgabe übernahm damals das italienische MRCC in Rom. Menschen, die Frontex oder EU-Mitgliedstaaten im zentralen Mittelmeer gerettet haben, wurden demnach nach Italien oder Malta gebracht.

Damit der neue Frontex-Flugdienst also seine gewünschte Wirkung zur Migrationsabwehr entfalten konnte, griffen die EU-Mitgliedstaaten und die EU-Kommission zu einer List. Parallel zum Start der ersten Frontex-Überwachungsflüge wurde Italiens Innenministerium beauftragt, in Libyen ein MRCC zur Entgegennahme von Frontex-Meldungen einzurichten. Die libysche Küstenwache sollte zudem darin unterstützt werden, bei der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO) eine Seenotrettungszone anzumelden. Dafür wollte die Kommission insgesamt 56 Millionen Euro ausgeben.

Allerdings erfüllt das libysche MRCC die Anforderungen der IMO in keiner Weise: Weder ist es Tag und Nacht erreichbar, das dort abgestellte Personal spricht oft kein Englisch, auch verfügen die Behörden nicht über die nötigen Ambulanzfahrzeuge oder Krankenhausplätze für einen Seenotfall. Inzwischen gilt zudem als gesichert, dass das libysche MRCC allenfalls auf dem Papier existent ist. Das bestätigten die EU-Kommissionder Rat und erst kürzlich Josep Borrell, der Hohe Vertreter der Europäischen Union.

Offenbar ist das angebliche MRCC in Libyen auch für Frontex schwer erreichbar. Die Grenzagentur hat sich deshalb einen kurzen Draht zur dortigen Küstenwache geschaffen. In mehreren Fällen wurde diese statt wie vorgeschrieben über das Navtex-System per WhatsApp informiert, wenn Frontex Geflüchtete auf Hoher See auf dem Weg in die EU entdeckt. Dabei werden auch Fotos der Boote, die mutmaßlich von den Flugzeugen oder Drohnen von Frontex stammen, ausgetauscht.

Die EU-Grenzagentur übernimmt also de facto die Luftaufklärung für die libysche Küstenwache, die darüber selbst nicht verfügt. Diese enge Kooperation sorgt dafür, dass Tausende von Menschen in Lager zurückgebracht werden, in denen sie Misshandlung, Folter und Tod erwarten. Ein eklatanter Bruch des Völkerrechts. Denn Geflüchtete dürfen nicht in Länder gebracht werden, aus denen sie geflohen sind und in denen ihnen Verfolgung droht. So hat es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unter anderem im sogenannten „Fall Hirsi“ von 2012 gegen Italien geurteilt.

Nun will Frontex seine Überwachungsfähigkeiten auch noch verbessern. Neben bemannten und unbemannten Luftfahrzeugen sowie Satelliten sollen zukünftig Videokameras in der Stratosphäre kreisen, ihre Aufnahmen werden mit Künstlicher Intelligenz ausgewertet. Von dieser Technisierung der Migrationsabwehr handelt die nächste Folge.


Der Autor: Matthias Monroy

Matthias Monroy hat viele Jahre im Deutschen Bundestag für einen Abgeordneten zum Thema gearbeitet. Inzwischen ist er Redakteur für Netzpolitik.org und das Neue Deutschland. Monroy arbeitet weiter u.a. zu den Themen Polizeiarbeit in der Europäischen Union, Migrationskontrolle, Internetüberwachung, Satellitenaufklärung und Drohnen.

Die Frontex-Drohnen im Mittelmeer werden von Airbus Bremen geflogen. (Matti BlumeIAI, ILA 2018, Schoenefeld (1X7A6064)CC BY-SA 4.0)

Teil 2 Frontex darf nun selbst gegen Schutzsuchende vorgehen

Autor: Matthias Monroy

Die ersten Frontex-Gesetze haben die Regierungen noch ohne das EU-Parlament beschlossen. Doch auch die 2009 verankerte parlamentarische Kontrolle kann die tödliche europäische Abschottung nicht stoppen – ganz im Gegenteil.

Die erste Frontex-Mission trug den Namen „Hera“ und wurde ab 2006 unter spanischer Leitung zwischen den Kanarischen Inseln und Senegal durchgeführt. Die Grenzüberwachung erfolgte dabei sowohl aus der Luft als auch auf See. Hierfür durften Einheiten der EU-Grenzagentur sogar die Hoheitsgewässer von Mauretanien, Senegal und Marokko befahren – eine bis heute einmalige Erlaubnis durch afrikanische Staaten.

Mit einer neuen Verordnung im Jahr 2007 wurden die Kompetenzen von Frontex maßgeblich erweitert. Die Grenzagentur sollte etwa sogenannte Soforteinsatzteams (RABITs) aufstellen, die über ähnliche operative Befugnisse wie die Beamt*innen des aufnehmenden Mitgliedstaats verfügen. Hierzu gehören Grenzkontrollen und Überwachungsmaßnahmen. Sie sollten in Situationen zum Einsatz kommen, „in denen eine Großzahl von Drittstaatsangehörigen versuchen, illegal die Außengrenzen der Union zu überschreiten“, so die offizielle Formulierung. Der erste Einsatz dieser RABITs erfolgte in Griechenland im Rahmen der Mission „Poseidon“, die bis heute andauert.

Über die Ausweitung des Mandats von Frontex konnten die EU-Staaten – genauso wie über die Gründung der Agentur – anfangs noch allein entscheiden. Erst seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 hat auch das Parlament ein Mitspracherecht. Bis Frontex in einer erneuerten Verordnung neben dem Grenzschutz auch zum Schutz der Grundrechte von Geflüchteten verpflichtet wird, dauerte es weitere zwei Jahre. Auslöser waren Berichte über die Mitwirkung bei völkerrechtswidrigen Zurückweisungen, den sogenannten „Pushbacks“. In der Praxis wirkt die neue Menschenrechtsverpflichtung bis heute nicht, schließlich gibt es zahlreiche belegte Verwicklungen von Frontex in völkerrechtswidrige Zurückweisungen.

2014 stellte sich die EU zur Migrationsabwehr neu auf und Frontex erhielt dabei eine Schlüsselrolle, mit Zustimmung vieler Abgeordneter. Mit der Umbenennung in „Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache“ im Jahr 2016 wurde Frontex erstmals eine ganz direkte Verantwortung für die Überwachung und Kontrolle der europäischen Außengrenzen übertragen. Frontex durfte nun also eigene Ausrüstung anschaffen und begann sofort mit dem Aufbau einer eigenen Luftüberwachung.

Für diesen neuen „Luftüberwachungsdienst“ hat Frontex mittlerweile Leasingverträge über mindestens 200 Millionen Euro abgeschlossen. Die Gelder fließen an private Dienstleister. Die von den Luftfahrzeugen aufgenommenen Videobilder werden in das Frontex-Hauptquartier nach Warschau und zu einzelnen Küstenwachen der Mittelmeeranrainer gestreamt.

Die neuen Mitbestimmungsrechte des Parlamentes nach dem Lissabon-Vertrag haben also zur Verschärfung der Migrationsabwehr von Frontex beigetragen. Davon profitieren Rüstungskonzerne wie etwa Airbus, dessen deutscher Ableger in Bremen die Frontex-Drohnen im Mittelmeer startet und landet. Wie diese Drohnen eingesetzt werden, um Schutzsuchende völkerrechtswidrig nach Libyen zurückzubringen, erklären wir in der nächsten Folge.


Der Autor: Matthias Monroy

Matthias Monroy hat viele Jahre im Deutschen Bundestag für einen Abgeordneten zum Thema gearbeitet. Inzwischen ist er Redakteur für Netzpolitik.org und das Neue Deutschland. Monroy arbeitet weiter u.a. zu den Themen Polizeiarbeit in der Europäischen Union, Migrationskontrolle, Internetüberwachung, Satellitenaufklärung und Drohnen.

Bereits kurz nach der Gründung von Frontex gab es schon Proteste in Warschau. (Noborder NetworkMigrant hunting EU agency – Shut Down FRONTEX Warsaw 2008CC BY 2.0)

Teil 1 – Die Gründung

Autor: Matthias Monroy

Die Entstehung von Frontex ist untrennbar mit dem Schengener Abkommen verbunden. In der ersten Verordnung waren die Aufgaben noch überschaubar und der operative Grenzschutz lag weiterhin nur in nationalstaatlicher Hand.

1995 haben sieben europäische Regierungen im Rahmen des Schengener Abkommens die Personenkontrollen an ihren Binnengrenzen abgeschafft. Quasi als Ausgleich schreibt der Vertrag jedoch gemeinsame Regeln zur Überwachung und Kontrolle der EU-Außengrenzen vor. Das haben die Schengen-Staaten zunächst in multilateralen Maßnahmen versucht. Dieser Ansatz erwies sich jedoch spätestens mit der EU-Erweiterung um neue östliche Nachbarländer als unpraktisch.

Zehn Jahre später, im Januar 2005, nahm deshalb Frontex in Warschau die Arbeit auf. Den Sitz der Agentur hatten die damaligen EU-Staaten nach einem Antrag der polnischen Regierung beschlossen. Im Fokus stand die neue Land-Außengrenze der EU, die sich mit dem Beitritt von sieben osteuropäischen Staaten ab 2004 deutlich nach Osten verschoben hatte.

Frontex ist also untrennbar mit dem Schengener Abkommen verbunden. So zementiert es der Vertrag von Amsterdam, mit dem ein „Raum für Freiheit, Sicherheit und des Rechts“ in die EU-Verträge aufgenommen wurde. Seitdem gehört auch der sogenannte Schengen-Besitzstand zum Rechtsrahmen der EU.

Das bedeutet, dass die EU-Mitglieder alle Entscheidungen zu Frontex treffen dürfen, die anschließend auch von den Nicht-EU-Mitgliedern (aber Schengen-Staaten) Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz umgesetzt werden müssen. Die vier Länder müssen also ohne eigenes Stimmrecht jährliche Budget-Erhöhungen von Frontex mittragen und Personal und Ausrüstung für Operationen bereitstellen.

Das Akronym für Frontex leitet sich von dem französischen Wort für Außengrenzen ab (frontières extérieures). Der offizielle Name lautete damals „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der EU“. Darin steckte eine wichtige Botschaft an die einzelnen Regierungen, die nämlich ihre hoheitlichen Aufgaben – der polizeiliche Grenzschutz gehört dazu – nicht komplett an Brüssel abgeben wollten.

Die Schaffung der EU-Grenzagentur war deshalb ein Kompromiss. Als zwischenstaatliche Einrichtung sollte sie den Schutz der Außengrenzen teilweise europäisieren. Frontex durfte demnach keinesfalls selbst grenzpolizeiliche Operationen durchführen, sondern die Mitgliedstaaten nur darin begleiten und unterstützen.

Die Zurückhaltung der Frontex-Gründerstaaten zeigte sich auch in der Gesetzgebung. In der ersten Verordnung von 2004 waren die darin verankerten Aufgaben noch überschaubar. Insgesamt gab es sechs Aufgabengebiete: Neben der Koordination von gemeinsamen Aktivitäten nationaler Grenzbehörden sollte Frontex den Mitgliedstaaten bei der Ausbildung helfen, Forschungen zur besseren Kontrolle und Überwachung der Außengrenzen durchführen und regelmäßige Lagebilder mit Prognosen zu Migrationsbewegungen erstellen. Meldete ein Mitgliedstaat Bedarf an, konnte Frontex für „verstärkte technische und operative Unterstützung“ sorgen.

Frontex war damals also noch vergleichsweise klein. Doch schon bald war den EU-Staaten das Korsett einer lediglich koordinierenden Agentur zu eng. So begann der Aufstieg von Frontex zu einer immer mächtigeren und weitgehend unkontrollierbaren Einrichtung, den wir in unserer Serie nachzeichnen wollen.


Der Autor: Matthias Monroy

Matthias Monroy hat viele Jahre im Deutschen Bundestag für einen Abgeordneten zum Thema gearbeitet. Inzwischen ist er Redakteur für Netzpolitik.org und das Neue Deutschland. Monroy arbeitet weiter u.a. zu den Themen Polizeiarbeit in der Europäischen Union, Migrationskontrolle, Internetüberwachung, Satellitenaufklärung und Drohnen.

Seenotretter*innen beklagen und betrauern den Tod von drei Menschen.

Am 06.02.2023 erreichte die SEA-EYE 4 mit 105 geretteten Personen sowie zwei Leichen an Bord den Hafen von Neapel. Dort konnten alle 105 Überlebenden sicher an Land gehen, auch die Toten wurden vom Schiff gebracht.

Es war eine schwierige Mission, bei der insgesamt drei Todesfälle zu beklagen sind! In der Nacht vom Donnerstag auf Freitag führte die Crew der SEA-EYE 4 zwei Rettungseinsätze durch. Zwei Menschen konnten nur noch tot geborgen werden. Eine weitere Person verstarb nach einer Notfallevakuierung am Sonntag in einem Krankenhaus an Land. Zuvor musste bereits eine andere Person von Bord der SEA-EYE 4 evakuiert werden, sie wird weiterhin in einem Krankenhaus behandelt. Unter den Toten ist auch eine junge Mutter, deren Baby unter den Überlebenden ist.

Ausschiffung Neapel

Die italienischen Behörden verlängerten das Leiden der Überlebenden, indem sie dem Rettungsschiff den über 480 km entfernten Hafen Neapel zuwiesen. Zuvor hatten die italienischen Behörden sogar den 1000 km entfernten Hafen Pesaro genannt. Für die SEA-EYE 4 wäre ein sizilianischer Hafen deutlich schneller erreichbar gewesen und die Menschen hätten viel schneller Zugang zur benötigten medizinischen Versorgung bekommen.

Die SEA-EYE 4 liegt derzeit noch im Hafen von Neapel, von wo aus sie sich zum nächstmöglichen Zeitpunkt auf den Weg nach Burriana macht. Dort geht das Schiff für Routine-Instandhaltungsarbeiten in die Werft.

Es ist zynisch bei der Zuweisung des Hafens von Neapel von einem Entgegenkommen zu sprechen, nur weil der zunächst zugewiesene Hafen von Pesaro noch weiter entfernt war. Die südsizilianischen Häfen hätten deutlich früher erreicht werden können. Die italienische Regierung muss davon abkehren, die Arbeit von Seenotrettungsorganisationen zu erschweren und so auch das Leid schutzsuchender Menschen zu verlängern. Es müssen alle zur Verfügung stehenden staatlichen und zivilen Ressourcen eingesetzt werden, um möglichst viele Todesfälle zu verhindern. Es ist ein andauerndes Verbrechen gegen die Menschlichkeit”, so Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V.

Ausschiffung Neapel

Insgesamt war es das dramatischste Erlebnis, das ich bisher auf See hatte. Vor allem die Menschen der ersten Rettung waren in einem extrem schlechten Gesundheitszustand, als sie bei uns an Bord ankamen. Sie hatten sechs Tage auf dem Boot verbracht ohne Essen, ohne Trinkwasser. Zwei Leichen wurden an Bord gebracht. Es war für alle sehr erschütternd”, sagt Einsatzärztin Dr. Angelika Leist von German Doctors e.V.