Gemeinsam mit 14 weiteren Organisationen – darunter Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen und die Landesflüchtlingsräte – fordert Sea-Eye die deutsche Bundesregierung auf, der Kriminalisierung von Flucht endlich ein Ende zu setzen. Kurz vor den Verhandlungen über die EU-Richtlinie zur sogenannten Beihilfe illegaler Einreise ab Oktober 2024, fordert der Appell den effektiven Schutz von Flüchtenden anstatt Menschenhandel zu befeuern.

In einer Zeit zunehmender Erosion rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Prinzipien fordern die 15 zivilgesellschaftlichen Organisationen die deutsche Bundesregierung auf, sich im Gesetzgebungsverfahren zur Überarbeitung der EU-Richtlinie für ein Ende der Kriminalisierung von Flucht und Menschenrechtsverteidigerinnen einzusetzen.

Der Appell beinhaltet konkrete Forderungen, darunter:

  • Die Schaffung von Rechtssicherheit durch eine klare Definition der sogenannten Beihilfe zur illegalen Einreise,
  • Die Entkriminalisierung von Schutzsuchenden und ihren Familien,
  • Die Implementierung einer umfassenden Ausnahmeformulierung für humanitäre Hilfe.

Anstatt Menschenhandel zu verhindern, wird die EU-Richtlinie in Mitgliedstaaten bisher als Instrument genutzt, um sowohl flüchtende Personen als auch ihre Unterstützerinnen zu kriminalisieren. Laut einer Studie der Organisation borderline-europe, werden Menschen, die ihre Fluchtboote angeblich selbst gesteuert haben, in Griechenland durchschnittlich zu 46 Jahren Haft verurteilt. Die Verfahren dauern im Mittel nur 37 Minuten an, in Verfahren mit staatlichen Pflichtanwälten nur 17 Minuten. Der aktuelle Entwurf der EU Kommission wiederholt diese fehlgeleitete Politik, die nachweislich ein ums andere Mal scheitert: Nur sichere Fluchtrouten können das Sterben an den Außengrenzen beenden.

Den offenen Brief mit den unterzeichnenden Organisationen finden Sie hier.

Weitere Informationen über die EU-Richtlinie und den kommenden Verhandlungsprozess finden Sie hier.

Ein gemeinsamer Appell von 15 zivilgesellschaftlichen Organisationen

Sehr geehrte Bundesministerin Nancy Faeser,

die EU steht in diesen Jahren an einem Scheideweg. Grundlegende rechtsstaatliche und menschenrechtliche Prinzipien werden zunehmend infrage gestellt und offen angegriffen, oft von Regierungen selbst. Menschen, die Schutz und Sicherheit suchen, sind dabei im Fadenkreuz staatlicher Verfolgung. Das hat ganz konkrete Folgen: Prozesse etwa in Griechenland oder Italien gegen Personen, die Flüchtlingsboote steuern, zeichnen sich durch Verfahrensverletzungen und mangelnde Beweisführung aus. Doch nicht nur Schutzsuchende selbst, auch ihre Unterstützer*innen werden in vielen Mitgliedstaaten kriminalisiert. Selbst wenn es letztlich zu Freisprüchen kommt, wird der Ruf von Organisationen durch die staatlichen Attacken geschädigt. Die oft jahrelangen Verfahren bedeuten außerdem eine enorme finanzielle und psychische Belastung für die Beschuldigten. Die EU-Richtlinie zur Beihilfe illegaler Einreise ist ein häufig verwendetes Instrument, um Flüchtende oder Unterstützende strafrechtlich zu verfolgen.

In den letzten Jahren gab es deswegen immer wieder Forderungen aus der Wissenschaft, von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Expert*innen, nach einer Überarbeitung der Richtlinie, um diesem Kriminalisierungstrend ein Ende zu setzen. Diesem Ruf ist die Europäische Kommission durch den von ihr 2023 vorgelegten Vorschlag zur Überarbeitung der Richtlinie nun gefolgt. Um Schutzsuchenden und Menschenrechtsverteidiger*innen endlich Rechtssicherheit zu garantieren, muss jedoch dringend nachgebessert werden.

Für uns ist klar: Eine überarbeitete Richtlinie muss vollumfänglich in Einklang mit dem UN-Schmuggelprotokoll, sowie internationalem Menschenrechten und dem Flüchtlingsrecht stehen. Humanitäre Hilfe und Unterstützung sind Ausdruck von Menschlichkeit und einer lebendigen Zivilgesellschaft und dürften nicht kriminalisiert werden. Wir appellieren deshalb an die Bundesregierung, sich bei den kommenden Verhandlungen für folgende Punkte einzusetzen:

  1. Klare Definition des Straftatbestands der Beihilfe zur illegalen Einreise unter Voraussetzung einer ungerechtfertigten finanziellen oder materiellen Bereicherung: Nach dem UN-Schmuggelprotokoll wird eine Handlung nur dann als Schmuggel angesehen und strafbar, wenn damit beabsichtigt wird, einen finanziellen oder materiellen Vorteil zu erzielen. Der Straftatbestand in der Richtlinie muss dieser Definition gerecht werden. Darüber hinaus sollte klargestellt sein, dass eine Dienstleistung gegen angemessene Bezahlung (wie eine Taxifahrt über die Grenze oder eine Beherbergung im Hotel in Grenznähe) vom Straftatbestand nicht erfasst ist.
  2. Eine ausdrückliche, umfassende und verbindliche Ausnahmeformulierung für humanitäre Hilfe und Maßnahmen, die dem Schutz von Menschenrechten dienen: Personen und Organisationen, die an Land oder auf See humanitäre Hilfe leisten oder Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, müssen in allen EU Mitgliedstaaten effektiv vor Kriminalisierung geschützt sein.
  3. Entkriminalisierung von Schutzsuchenden und ihren Familienangehörigen: Menschen auf der Flucht sind diejenigen, welche durch ihre Zwangslage Opfer von Schleuserei werden. Der Vorwurf des Schmuggels darf nicht dazu dienen, fliehende Menschen oder deren Familienangehörige durch die Hintertür zu kriminalisieren.
  4. Entfernung des neuen Straftatbestands der öffentlichen Anstiftung: Ein solcher gefährlich vage definierter Straftatbestand könnte dazu genutzt werden, Schutzsuchende oder humanitäre Hilfe zu kriminalisieren und stellt darüber hinaus einen gefährlichen Einschnitt in Presse- und Meinungsfreiheit dar.
  5. Vorangestellte Menschenrechtsfolgenabschätzung: Die Europäische Kommission hat es versäumt, eine menschenrechtliche Folgenabschätzung für die vorgeschlagene Gesetzesänderung durchzuführen. Dies sollte dringend nachgeholt werden, um die nötige Faktengrundlage zur Unterstützung der neuen Rechtsvorschriften zu gewährleisten.

Kriminalisierung von Flucht führt zu mehr Leid und Toten. Irreguläre Grenzübertritte bleiben für viele Menschen alternativlos und sollten nicht kriminalisiert werden. Letztlich sind sichere und legale Fluchtmöglichkeiten der einzige Weg, um die Ausbeutung fliehender Menschen effektiv zu verhindern. Der Umgang mit den in Folge des Angriffskriegs aus der Ukraine fliehenden Menschen hat gezeigt, dass das auch praktisch möglich ist. Wir appellieren an Sie, sicherzustellen, dass die neu überarbeitete Richtlinie kein weiterer Schritt in Richtung der Abschaffung von menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Prinzipien wird.

Anmesty International, borderline-europe, Seebrücke, r42-sail and rescue, Pro Asyl, AWO Bundesverband, Free Homayoun, MSF – Ärzte ohne Grenzen, medico international, Sea-Watch, Die Landesflüchtlingsräte, Sea-Eye, SARAH Seenotrettung, Deutscher Anwaltverein, SOS Humanity

Am 8. September 2020 brannte Europas größtes Aufnahmelager fast vollständig nieder. Schon zuvor war Moria für seine überfüllten und katastrophalen Zustände bekannt. Vier Jahre nach der Katastrophe fordert Sea-Eye endlich echte Lösungen und eine solidarische Asylpolitik.

Als vor vier Jahren das Geflüchtetenlager Moria auf Lesbos in Flammen aufging, wurden rund 13.000 Menschen auf einen Schlag obdachlos. Der Katastrophe folgte großes Entsetzen über die Zustände in dem überfüllten Massenlager: „Keine Morias mehr“ – hieß es damals aus der EU.

Aber: „Viele andere Morias” wurden nun beschlossen. Denn wofür das Elendslager stand, hat die EU in diesem Jahr mit der Asylrechtsverschärfung GEAS in Gesetzesform gegossen: Die Entrechtung und Entmenschlichung von Schutzsuchenden mit dem Ziel der Abschreckung. Das Lager Moria ist zwar abgebrannt, aber das dahinterstehende Prinzip der Ausgrenzung und Abschottung brennt weiter. Die EU bekämpft die Flammen mit Feuer – angefacht von Rechtsaußen.

Wir fordern: Aus der Asche von Moria müssen endlich echte Lösungen entstehen – eine wirklich solidarische Asylpolitik auf Basis der Menschenrechte! Ein Europa, das Kinder nicht in abgeschottete Haftlager an den Außengrenzen pfercht. Ein Europa, das nicht autoritäre Regime dafür bezahlt, Menschen aus libyschen Elendslagern an der Flucht zu hindern. Ein Europa, das Menschen nicht aufs offene Meer, in die Türkei, nach Tunesien oder Libyen zurückschickt – und in libyschen Folterlagern ihrem Schicksal überlässt. Dafür stehen wir als Teil der europäischen Zivilgesellschaft!