40-stündige Transitfahrt bei 33 Grad belastet Gesundheit der Geretteten schwer

In der Nacht von Samstag auf Sonntag reagierte die Besatzung der SEA-EYE 5 gegen 3:00 Uhr auf einen Notruf der Organisation Alarm Phone und konnte 43 Menschen aus akuter Lebensgefahr retten. Wenige Stunden später, gegen 6:00 Uhr, sichtete die Crew ein weiteres seeuntüchtiges Boot mit neun Personen, die ebenfalls sicher an Bord des Rettungskreuzers genommen werden konnten.

Unter den insgesamt 52 geretteten Personen befinden sich drei Babys sowie zwei schwangere Frauen. Der Rettungskreuzer ist aktuell auf dem Weg in den von den italienischen Behörden zugewiesenen sicheren Hafen Brindisi.

„Die Menschen an Bord haben bereits große Strapazen hinter sich“, berichtet Einsatzarzt Dr. Giovanni Cappa von German Doctors, der die medizinische Versorgung auf der SEA-EYE 5 leitet. „Die extreme Hitze und der Wellengang sind eine große Zumutung, insbesondere für die Babys und die schwangeren Frauen. Es wäre so einfach, ihr Leid zu verringern, indem wir so schnell wie möglich einen näher gelegenen sicheren Hafen ansteuern dürften.“

Die SEA-EYE 5 ist für akute Rettungen, jedoch nicht für lange Transitwege ausgelegt.Zudem werden die Trinkwasservorräte zunehmend knapper. Die Crew der SEA-EYE 5 hat bereits zweimal bei den italienischen Behörden um die Zuweisung eines näher gelegenen Hafens gebeten – beide Anfragen blieben jedoch ohne Erfolg.

Gorden Isler, Vorstandsvorsitzender von Sea-Eye e. V., erklärt: „Diese Menschen haben bereits das Unvorstellbare erlebt. Nun zwingt man sie, unter extrem belastenden Bedingungen unnötig lange auf die Ausschiffung zu warten – das sind ekelhafte politische Machtspielchen und ein inhumanes und absolut inakzeptables Verhalten, das auf dem Rücken von Menschen ausgetragen wird, die bereits alles zurücklassen mussten in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft – wohl wissend, dass der Versuch sie das Leben kosten könnte.“

Trotz massiver Kritik aus Zivilgesellschaft und Politik hat der Haushaltsausschuss des Bundestages in seiner gestrigen Bereinigungssitzung entschieden, die Fördermittel für die zivile Seenotrettung vollständig zu streichen. Damit entfällt die bisherige Unterstützung in Höhe von zwei Millionen Euro pro Jahr, mit der seit 2022 humanitäre Rettungseinsätze im Mittelmeer gefördert wurden. Zwischen Oktober 2023 und Februar 2025 konnten durch staatlich unterstützte Missionen von Sea-Eye zusätzlich 747 Menschen vor dem Ertrinken gerettet werden. Die ersatzlose Streichung dieser Mittel wird konkrete Auswirkungen auf Rettungseinsätze und die Überlebenschancen von Menschen in Seenot haben.

„Diese Entscheidung ist ein politischer Offenbarungseid – und ein Schlag ins Gesicht aller Menschen, die sich seit nunmehr 10 Jahren in der zivilen Seenotrettung engagieren. Diesen Beschluss werden schutzsuchende Menschen mit dem Leben bezahlen, wenn weniger Rettungseinsätze von Organisationen wie Sea-Eye geplant und finanziert werden können. So wird die Flucht über das Mittelmeer nur noch gefährlicher“, sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V. „Wir werden nicht aufgeben. Während es dieser Bundesregierung genügt, die Toten zu zählen, werden wir weiter Menschenleben retten.“

Sea-Eye und Campact hatten am Morgen vor der Entscheidung gegen die geplanten Kürzungen protestiert und eine Petition mit 93.724 Unterschriften an Britta Haßelmann und Ricarda Lang (Bündnis 90/Die Grünen) übergeben. Doch der Protest blieb ungehört.

„Dass die Bundesregierung genau in dem Moment die Mittel streicht, in dem Seenotrettungsorganisationen massiv kriminalisiert und blockiert werden, ist kein Zufall – es ist eine politische Entscheidung mit tödlichen Konsequenzen“, kritisiert Gorden Isler. 

Trotz der finanziellen Streichung kündigt Sea-Eye an, die Rettungseinsätze fortzusetzen – unterstützt von der Zivilgesellschaft:

„Wir danken den zehntausenden Menschen, die sich mit uns gegen diese Politik der Abschottung stellen. Es ist ihr Rückhalt, der uns trägt. Und so lange wir die Möglichkeit haben, werden wir weiter retten – denn jedes gerettete Leben zählt”,  macht Gorden Isler deutlich.

Sea-Eye und WeAct übergeben Petition mit 93.724 Unterschriften – die Bundesregierung schweigt, Grüne sichern Unterstützung zu

Anlässlich der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses protestiert die zivile Seenotrettungsorganisation Sea-Eye gemeinsam mit Campact gegen das drohende Aus der staatlichen Förderung der zivilen Seenotrettung. Die Streichung von 2 Millionen Euro jährlich trifft auf breiten Protest aus Zivilgesellschaft und Politik: Sea-Eye übergab am Morgen eine WeAct-Petition mit rund 94.000 Unterschriften an Britta Haßelmann und Ricarda Lang (Bündnis 90/die Grünen) vor dem Reichstagsgebäude. Bundeskanzler Merz (CDU), Außenminister Wadephul (CDU) und Finanzminister Klingbeil (SPD), die Adressaten der Petition, blieben eine Reaktion bislang schuldig.

„Mit unserer Protestaktion heute wollen wir ganz klar zeigen, dass die Bundesregierung ihren moralischen Kompass verloren hat“, sagt Kai Echelmeyer, Vorstandsmitglied von Sea-Eye e.V. „Statt Menschenrechte zu schützen und Verantwortung zu übernehmen, streicht sie Lebensrettung aus dem Haushalt. Das ist nicht nur ein fatales politisches Signal, sondern eine humanitäre Bankrotterklärung.“

Seit Bekanntwerden der Kürzungspläne Ende Juni regt sich massiver Widerstand gegen die Streichung der Mittel. Sea-Eye und Unterstützer*innen mobilisierten innerhalb kürzester Zeit zehntausende Menschen – unter anderem wurden über 7.000 persönliche E-Mails an Bundestagsabgeordnete verschickt. Adressatin war hierbei vor allem die SPD, die sich auf ihrem letzten Parteitag zur Unterstützung der zivilen Seenotrettung bekannt hatte. Zwölf SPD-Abgeordnete appellierten daraufhin in einem offenen Brief an Außenminister Wadephul, die Kürzung im Einzelplan 05 des Auswärtigen Amts zu überdenken. Ohne die Bundesmittel könnten Einsätze ausfallen – die Folge: mehr Tote im Mittelmeer.

“Dabei ist der Betrag, der bisher [für die zivile Seenotrettung] vorgesehen war, so klein, dass es hier nicht um Haushaltskonsolidierung und Sparmaßnahmen geht, was ja schon schlimm genug wäre, sondern darum, die Zivilgesellschaft einzuschüchtern und einen grundsätzlich migrationsfeindlichen Kurs durchzusetzen […]. Diesen Kurs gehen wir nicht mit,” stellt Ricarda Lang (Bündnis 90/die Grünen) klar.

Britta Haßelmann (Bündnis 90/die Grünen) unterstreicht: „Zivile Seenotrettung muss finanziert werden. Es ist ein wirklich kleiner Beitrag in diesem großen Bundeshaushalt. […] Deshalb gehen wir mit einer Antragsinitiative von Bündnis 90/Die Grünen, die zivile Seenotrettung weiter zu finanzieren, in die Haushaltsplanung rein. Eigentlich wäre es staatliche Verantwortung und Aufgabe, Menschen aus dem Meer zu retten.” 

Erstmals unterstützte die Bundesregierung ab 2022 die humanitäre Arbeit ziviler Seenotrettungsorganisationen mit jährlich 2 Millionen Euro. Diese finanzielle Unterstützung hat für Organisationen wie Sea-Eye zusätzliche Missionen ermöglicht und ganz konkret Menschenleben gerettet. Die Streichung dieser Mittel wirkt sich direkt auf Rettungseinsätze und die Überlebenschancen von Menschen in Seenot aus. Die Entscheidung des Haushaltsausschusses wird im Laufe der Bereinigungssitzung erwartet.

Zehn Jahre nach dem Tod von Alan Kurdi zwingt der Mangel an sicheren Fluchtwegen Menschen bis heute zur Flucht über das Mittelmeer

Am Sonntagmorgen gegen 9 Uhr erreichte die Besatzung der SEA-EYE 5 einen Seenotfall, den die Organisation Alarm Phone gemeldet hatte. Innerhalb weniger Stunden konnte die Crew 144 Personen retten, die tagelang auf einem seeuntüchtigen Holzboot im Meer getrieben waren.

 Dr. Giovanni Cappa, Einsatzarzt von German Doctors an Bord der SEA-EYE 5, berichtet:

„Einige der Menschen an Bord waren dehydriert und unterernährt. Unter den Geretteten befand sich auch eine schwangere Frau. Der Zustand mehrerer Menschen war kritisch und erforderte sofortige medizinische Hilfe. Dies war eine Herausforderung für die gesamte Besatzung, die sich um die Versorgung kümmern und gleichzeitig eine so große Anzahl von Menschen in Not betreuen musste.“

Der kritische Zustand zweier Personen erforderte eine medizinische Evakuierung. Die beiden medizinischen Notfälle wurden gemeinsam mit 51 weiteren Personen südlich von Lampedusa von einem Schiff der italienischen Küstenwache übernommen.

Die SEA-EYE 5 wurde nach dem Einsatz von den italienischen Behörden angewiesen, die verbleibenden rund 100 Personen zum etwa 40 Stunden entfernten Hafen von Tarent zu bringen. Da der Rettungskreuzer nicht für einen Transfer einer derart großen Menge an Menschen über eine so weite Distanz ausgelegt ist, hat die Crew wiederholt bei den italienischen Behörden darum gebeten, einen nähergelegenen Hafen ansteuern zu dürfen – vergeblich. 

„Obwohl wir sie fortwährend unterstützen, sind die Menschen an Bord gezwungen, aufgrund des weit entfernten Ausschiffungshafens über einen längeren Zeitraum hinweg extreme Temperaturen auf dem Deck und sehr beengte Platzverhältnisse zu ertragen. Unter diesen Bedingungen kann sich ihr Gesundheitszustand nur verschlechtern,“ mahnt Dr. Giovanni Cappa.

Die italienische Seenotrettungsleitstelle schickte am späten Montagnachmittag ein Marineschiff, das die SEA-EYE 5 nach Tarent eskortieren soll.

„Morgen ist der zehnte Todestag von Alan Kurdi, seinem Bruder Ghalib und seiner Mutter Rehanna. Es ist beschämend, dass wir zehn Jahre später immer noch keine legalen Fluchtwege geschaffen haben, sondern Menschen auch im Jahr 2025 immer noch gezwungen sind, lebensgefährliche Fluchten über das zentrale Mittelmeer auf sich zu nehmen. Europäische Regierungen haben nicht nur versäumt, eine staatliche Seenotrettung aufzubauen, sondern behindern zudem aktiv die Arbeit der zivilen Helfer*innen. Dass sie sich dabei besonders kreative Schikanen überlegen, die dazu führen, dass die geretteten Menschen, nach allem, was sie durchgemacht haben, weiterem Stress und gesundheitsgefährdenden Strapazen ausgesetzt werden, ist einfach perfide,“ sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V.

Der Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 und das durch die Reaktion Israels eskalierende, unermessliche menschliche Leid, sind ein fundamentaler Angriff auf das humanitäre Völkerrecht. Es ist das Rückgrat des Schutzes der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten – es gilt immer, überall und für alle. Es ist nicht verhandelbar, nicht relativierbar, nicht teilbar. Deshalb appelliert Sea-Eye e.V. an alle Seiten, das humanitäre Völkerrecht ausnahmslos zu achten.

Die Hamas muss alle noch in ihrer Gewalt befindlichen Geiseln menschenwürdig behandeln und bedingungslos freilassen. Die Kollektivbestrafung der Bevölkerung von Gaza durch Zwangsvertreibung, Hunger oder Blockade durch die israelische Regierung muss sofort enden. Die gezielte Verletzung humanitärer Schutzregeln ist ein Angriff auf die Grundprinzipien der Menschlichkeit – und unter keinen Umständen zu rechtfertigen.

Sea-Eye schließt sich daher uneingeschränkt der Erklärung der 111 humanitären Organisationen an und unterstützt die Resolution von Ärzte ohne Grenzen, die einen sofortigen Waffenstillstand sowie den freien Zugang von Hilfsgütern auf dem Landweg unter UN-Koordination fordert.

Ein leiser Beschluss während der parlamentarischen Sommerpause, der die Überlebenschancen von Menschen auf der Flucht gefährlich mindert.

Kontext & Hintergründe

  • Die Bundesregierung aus Union und SPD plant, die bisher jährliche Förderung von etwa zwei Millionen Euro an Organisationen wie Sea‑Eye, SOS Humanity, Sant’Egidio und andere ab 2026 komplett einzustellen.
  • Jetzt hat der Haushaltsausschuss beschlossen, dass die finanzielle Unterstützung für zivile Seenotrettung bereits in diesem Jahr eingestellt werden soll. Im ersten Quartal 2025 waren es laut Auswärtigem Amt noch rund 900.000 Euro, was bedeutet, dass Organisationen 2025 eine Lücke von rund 1,1 Millionen Euro füllen müssen.
  • Sea‑Eye warnte, dass mit dem Wegfall der staatlichen Unterstützung Missionen ausfallen könnten und Rettungsschiffe womöglich im Hafen bleiben müssen.
  • Auf dem SPD-Bundesparteitag im Juni hatten sich die Sozialdemokraten mit großer Mehrheit für die Fortführung der zivilen Seenotrettung ausgesprochen. Der Haushaltsentwurf für 2026 enthält jedoch keinerlei Mittel – die SPD-Fraktion bleibt untätig.
  • Außenminister Johann Wadephul (CDU) hatte bereits Ende Juni erklärt, die Förderung für zivilgesellschaftliche Seenotretter abzulehnen. Zivile Seenotrettung sei eine “ungeeignete Methode”. 
  • Bundeskanzler Friedrich Merz äußerte sich bei Sandra Maischberger ebenfalls ablehnend. Zivile Seenotrettung sei “keine privatwirtschaftliche Aufgabe

Der Streit um die zivile Seenotrettung ist ein demokratiepolitischer Kernkonflikt. Denn wer entscheidet in einer Demokratie darüber, ob Menschenrechte durchgesetzt oder preisgegeben werden – Parteitage oder Haushälter? Es ist schockierend, wie die Bundesregierung versucht, sich still und heimlich in der parlamentarischen Sommerpause weiter aus der Verantwortung zu ziehen. Die Seenotrettung ist ein zivilisatorischer Grundpfeiler unseres Umgangs mit Menschen auf der Flucht. Wir bestehen weiter auf eine Fortsetzung der Förderung”, sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V.

Zwischen Oktober 2023 und Februar 2025 konnten durch staatlich unterstützte Missionen von Sea-Eye zusätzlich 747 Menschen vor dem Ertrinken gerettet werden. 

Zwei schwer verletzte Personen mussten zuvor notevakuiert werden

Am Donnerstagmittag gegen 12:00 Uhr rettete die Crew der SEA-EYE 5 17 Menschen im Mittelmeer. Bei einer Person stellte sich der gesundheitliche Zustand als so kritisch heraus, dass die Besatzung eine medizinische Evakuierung anforderte. Ein Helikopter brachte die Person daraufhin in ein Krankenhaus nach Malta, damit sie dort schnellstmöglich behandelt werden konnte. 

„Der Gesundheitszustand der meisten geretteten Personen war stabil, einige waren seekrank. Eine Person hatte zu viel Treibstoff eingeatmet, weshalb der Sauerstoffgehalt im Blut zu niedrig war. Wir haben die Person mit Sauerstoff versorgt und sie gegen die Dehydrierung behandelt. Da ihr Zustand zu kritisch war, um sie über einen längeren Zeitraum an Bord zu behalten, haben wir eine Evakuierung beantragt“, berichtet Dr. Nour Hanna-Krahl, Einsatzärztin von German Doctors an Bord der SEA-EYE 5.

Etwa drei Stunden nach dem Helikoptereinsatz verschlechterte sich der Gesundheitszustand einer zweiten geretteten Person. Die Besatzung forderte daraufhin eine weitere medizinische Evakuierung an. Ein Schiff der italienischen Küstenwache nahm die betroffene Person an Bord und brachte sie in Lampedusa an Land, damit sie dort unverzüglich medizinisch versorgt werden konnte.

Die italienischen Behörden wiesen der SEA-EYE 5 nach dem Einsatz den Hafen Vibo Valentia zu, der etwa 400 Seemeilen vom Ort der Rettung entfernt liegt. Nach fast 30-stündiger Fahrt konnten die 15 geretteten Personen am späten Freitagabend sicher an Land gehen.

Für die SEA-EYE 5 war es der zweite Einsatz während dieser Mission. Am Samstagmorgen (19. Juli) konnten bereits 14 Personen an Bord des Rettungskreuzers in Sicherheit gebracht werden und am Sonntagabend im zugewiesenen Hafen Reggio Calabria an Land gehen.

Waves

32 Organisationen fordern die sofortige Beendigung der systematischen Behinderung ziviler Seenotrettung durch die italienische Regierung. Allein im letzten Monat wurden nichtstaatliche Schiffe auf Basis des „Piantedosi-Dekrets“ dreimal festgesetzt – das von RESQSHIP betriebene Segelschiff Nadir zweimal hintereinander. Das bewusste Fernhalten von nichtstaatlichen Such- und Rettungsorganisationen aus dem zentralen Mittelmeer führt zu unzähligen weiteren Todesfällen auf einer der tödlichsten Fluchtrouten weltweit.

Trotz viel öffentlicher Kritik durch nichtstaatliche Such- und Rettungsorganisationen (SAR) werden zivile Schiffe seit der Verabschiedung des „Piantedosi-Dekrets” im Januar 2023 weiterhin willkürlich festgesetzt. Dies wurde durch das „Flussi-Dekret” im Dezember 2024 weiter verschärft. Im letzten Monat wurden Nadir und Sea-Eye 5, zwei kleinere Einsatzschiffe, betrieben von RESQSHIP und Sea-Eye, unter dem Vorwurf festgesetzt, den Anweisungen der Behörden nicht Folge geleistet zu haben. Beiden Crews wurden sehr weit entfernte Häfen zugewiesen. Sie wurden außerdem dazu aufgefordert, die Geretteten nach Vulnerabilitätskriterien zu trennen und anteilig auf ein anderes Schiff zu bringen –obwohl eine ordnungsgemäße Vulnerabilitätsprüfung eine sichere Umgebung voraussetzt und nicht an Bord eines Schiffes durchgeführt werden kann.

Diese rechtlichen und administrativen Hürden dienen einem offensichtlichen Ziel: zivile Rettungsschiffe von ihren Einsatzgebieten fernzuhalten und ihre Such- und Rettungsaktivitäten auf See drastisch einzuschränken. Ohne die Präsenz von nichtstaatlichen Schiffen und Flugzeugen werden mehr Menschen bei der Flucht über das zentrale Mittelmeer ertrinken und Menschenrechtsverletzungen sowie Schiffbrüche unbemerkt bleiben. Kleinere Schiffe spielen dabei eine entscheidende Rolle: Sie beobachten die Region, leisten Erste Hilfe für Menschen in Seenot und nehmen die Überlebenden notfalls an Bord, bis besser ausgerüstete Schiffe eintreffen.

Seit Februar 2023 wurden zivile Rettungsschiffe 29-mal festgesetzt. Das entspricht einer Zeit von insgesamt 700 Tagen, in denen sie sich in Häfen befanden, anstatt Leben auf See zu retten. Außerdem verbrachten die Schiffe zusätzlich 822 Tage auf See, um zu ungerechtfertigt weit entfernten Häfen zu gelangen, was einer Fahrleistung von 330.000 Kilometern entspricht. Die Praxis, Rettungsschiffe zu weit entfernten Häfen zu schicken, wurde nun auch auf kleinere zivile Schiffe ausgeweitet.

Darüber hinaus wenden Organisationen enorme Zeit und finanzielle Mittel auf, um gegen die restriktiven Gesetze Italiens und die willkürlich verhängten administrativen Festsetzungen und Geldstrafen vorzugehen.

In den vergangenen Monaten haben die nationalen Gerichte in Catanzaro, Reggio Calabria, Crotone, Vibo Valentia und Ancona – Entscheidungen getroffen, in denen die Festsetzung von NGO-Rettungsschiffen für rechtswidrig erklärt und die damit verbundenen Geldstrafen aufgehoben wurden. Im Oktober 2024 ersuchte das Gericht von Brindisi das italienische Verfassungsgericht, die Vereinbarkeit des im Februar 2023 in Kraft getretenen „Piantedosi-Dekrets” mit der italienischen Verfassung zu prüfen. Am 8. Juli 2025 hat das Verfassungsgericht erneut festgestellt, dass das Seerecht nicht durch strafende und diskriminierende Vorschriften umgangen werden darf und dass jede entgegenstehende Anordnung als rechtswidrig und unzulässig anzusehen ist.

Unterlassene Hilfeleistung ist ein Verbrechen!

Nach internationalem Seerecht ist jede*r Kapitän*in dazu verpflichtet, Menschen in Seenot zu retten. Ebenso ist jede staatliche Rettungsleitstelle gesetzlich verpflichtet, umgehend Rettungen einzuleiten und zu koordinieren. Was wir erleben, ist jedoch kein Staatsversagen, sondern systematische und vorsätzliche Rechtsverletzung: Rettungsleitstellen geben Informationen zu Seenotfällen nicht weiter, koordinieren Seenotfälle mit der sogenannten libyschen Küstenwache, die – sogar in maltesischen Gewässern – illegale Rückführungen durchführen, und lassen es zu, dass Frontex-Flugzeuge Schiffbrüche und gewaltsame Abfangmanöver beobachten, anstatt adäquate Rettung zu mobilisieren.

Diese Praktiken stellen einen eklatanten Verstoß gegen das SOLAS-Übereinkommen, das SAR-Übereinkommen, das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) und den Grundsatz der Nichtzurückweisung dar. Wenn Staaten Rettungsmaßnahmen behindern, anstatt sie zu ermöglichen, setzen sie Recht nicht durch, sondern verstoßen dagegen.

Hintergrund

Im Dezember 2024 trat das von der italienischen Regierung verabschiedete „Flussi-Dekret” (umgewandelt in das Gesetz 145/2024) zu Migrations- und Asylrechtsfragen in Kraft. Es verschärft die bereits restriktiven Bestimmungen des „Piantedosi-Dekrets” und reicht von Geldstrafen bis hin zur Festsetzung und dauerhaften Beschlagnahmung von Such- und Rettungsschiffen. Die neuen Bestimmungen erleichtern die Beschlagnahmung von Schiffen, indem sie Reeder unabhängig von Kapitänin oder Kapitän für wiederholte Verstöße haftbar machen, und stellen damit eine weitere Eskalation der gezielten Behinderung der Arbeit von Seenotrettungsorganisationen im zentralen Mittelmeerraum dar.

Vor zehn Jahren begannen zivile Seenotrettungsorganisationen, die tödliche Lücke zu füllen, die die EU und ihre Mitgliedstaaten im zentralen Mittelmeerraum hinterlassen hatten. Während die EU sich zunehmend auf Grenzkontrollen und die Auslagerung von Grenzmanagement konzentriert, um die Ankunft von Menschen an den europäischen Küsten zu verhindern, retteten zivile Rettungsschiffe seitdem mehr als 175.500 Menschen aus Seenot. Dennoch werden nichtstaatliche Seenotrettungsorganisationen seit 2017 zunehmend kriminalisiert und systematisch behindert – durch restriktive Gesetze und Richtlinien, die im Widerspruch zum internationalen Seerecht und den Menschenrechten stehen.

Wir fordern:

  • die sofortige Aufhebung des Piantedosi- und des Flussi-Dekrets. Die unmenschliche Aufforderung gegenüber Rettungsschiffen, Überlebende nur teilweise auszuschiffen, sowie die Zuweisung weit entfernter Häfen müssen beendet werden. Wie vom internationalen Seerecht gefordert, müssen Gerettete unverzüglich am nächstgelegenen sicheren Ort ausgeschifft werden. Sie sollten aufgrund von politischen Kalküls keine zusätzlichen Reisen erdulden müssen.
  • die sofortige Freilassung des Beobachtungsschiffes Nadir und die Beendigung der Behinderung und Kriminalisierung nichtstaatlicher Seenotrettungsaktivitäten.
  • dass die EU-Mitgliedstaaten ihrer Pflicht zur Rettung von Menschen auf See nachkommen und das Völkerrecht einhalten. Die Behörden und Rettungsleitstellen müssen zivile Schiffe bei der Koordinierung von Rettungsaktionen unterstützen, damit sie ihrer Aufgabe Menschen in Not zu helfen nachkommen können.
  • die Einrichtung eines EU-finanzierten und koordinierten Seenotrettungsprogramms.
  • sichere und legale Wege nach Europa, um zu verhindern, dass Menschen gezwungen werden, sich auf seeuntüchtige Boote über das zentrale Mittelmeer zu begeben.

Unterzeichner*innen

  1. Association for Juridical Studies on Immigration (ASGI)
  2. borderline-europe, Human rights without borders e.V.
  3. Captain Support Network
  4. Cilip | Bürgerrechte & Polizei 
  5. CompassCollective
  6. CONVENZIONE DEI DIRITTI NEL MEDITERRANEO 
  7. EMERGENCY
  8. European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR)
  9. Gruppo Melitea 
  10. iuventa-crew
  11. LasciateCIEntrare 
  12. Maldusa project
  13. Médecins Sans Frontières
  14. MEDITERRANEA Saving Humans
  15. MEM.MED Memoria Mediterranea 
  16. migration-control.info project
  17. MV Louise Michel project
  18. Open Arms 
  19. RESQSHIP
  20. r42 Sail And Rescue
  21. Refugees in Libya
  22. Salvamento Marítimo Humanitario (SMH)
  23. SARAH-Seenotrettung 
  24. Sea-Eye
  25. Sea Punks e.V
  26. Sea-Watch
  27. SOS Humanity
  28. SOS MEDITERRANEE
  29. Statewatch
  30. Tunisian Forum for Social and Economic Rights FTDES
  31. United4Rescue 
  32. Watch the Med Alarm Phone

Nach 20 Tagen Festsetzung und gestrichener Förderung durch die Bundesregierung kehrt das zivile Rettungsschiff ins Mittelmeer zurück.

Etwa drei Wochen, nachdem die Bundesregierung angekündigt hat, die finanzielle Förderung für zivile Seenotrettung zu streichen, bricht das Rettungsschiff SEA-EYE 5 erneut ins Mittelmeer auf. Zuvor hatten über 80.000 Menschen in einer Petition gefordert, die Unterstützung wieder in den Bundeshaushalt aufzunehmen.

„Viele Menschen haben sich in sehr kurzer Zeit solidarisch gezeigt und ermöglichen, dass die SEA-EYE 5 erneut auslaufen kann. Dafür sind wir dankbar! Doch dieses starke zivilgesellschaftliche Signal steht im scharfen Kontrast zur Haltung der Bundesregierung. Sie reiht sich ein in ein brutales EU-Grenzregime, zieht sich aus der Verantwortung zurück und überlässt die Rettung von Menschenleben wieder allein der zivilen Seenotrettung und den Mittelmeeranrainern. Mit ihrer Politik macht die Bundesregierung Fluchtwege tödlicher und lässt humanitäre Hilfsorganisationen im Stich. Und das ist kein versehentlicher, politischer Blindflug. Das ist ein vorsätzlicher Bruch mit humanitären Grundwerten”, erklärt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye.

„Gerade in diesen Zeiten stehen wir zu unserer Kooperation mit Sea-Eye und damit zur zivilen Seenotrettung. So stellen wir weiterhin durch den Einsatz unserer Ärzt*innen an Bord die dringend notwendige medizinische Versorgung der in Seenot geratenen Menschen sicher“, betont Dr. Christine Winkelmann, Vorständin Projekte German Doctors e.V.

Für die SEA-EYE 5 ist es die erste Mission nach einer 20-tägigen Festsetzung in Pozzallo auf Sizilien. Die italienischen Behörden hatten diese nach der Rettung von 65 Menschen verhängt. Sea-Eye hat bereits Klage gegen die Verwaltungshaft und das damit verbundene Bußgeld erhoben. Allein im Jahr 2024 hat der Verein drei Klagen gegen unrechtmäßige Festsetzungen durch die italienischen Behörden gewonnen.

Der Wegfall von über zwei Millionen Euro hat konkrete Auswirkungen auf Rettungseinsätze und die Überlebenschancen von Menschen in Seenot.

Seit 2022 förderte das Auswärtige Amt die zivile Seenotrettung im Mittelmeer mit jährlich zwei Millionen Euro. Vor dem Kabinettsbeschluss, die Mittel aus dem Bundeshaushalt zu streichen, wurde mit keiner der betroffenen Organisationen Kontakt aufgenommen.

Dazu sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye: „Wir füllen seit zehn Jahren die Lücke auf dem Mittelmeer, die eigentlich von europäischen Staaten – und somit auch von Deutschland – geschlossen werden müsste. Die finanzielle Unterstützung hat für Sea-Eye zusätzliche Missionen ermöglicht und ganz konkret Menschenleben gerettet. Jetzt kann es passieren, dass wir trotz Seenotfällen im Hafen bleiben müssen. Die Förderung der Seenotrettung durch die Bundesregierung darf nicht still und unkommentiert gestrichen werden. Weniger Menschen werden dann aus Seenot gerettet. Deshalb muss der Bundestag die Unterstützung im Bundeshaushalt fortsetzen. Der Schutz von Menschenleben und Menschenrechten darf in Deutschland nicht weniger wichtig sein als massive Investitionen in Rüstung. Das politische Signal wäre fatal. Ich appelliere an alle Abgeordneten der demokratischen Parteien im Bundestag: Sorgen Sie dafür, dass die Förderung ziviler Seenotrettung fortgeführt wird und wir weiterhin Leben retten können.

Allein im letzten Jahr sind im Mittelmeer über 2.500 Menschen auf der Flucht gestorben (Quelle: IOM Missing Migrants Project). Sea Eye finanziert sich seit der Gründung 2015 fast ausschließlich aus Spendengeldern. Mit der Förderung durch die damalige Ampel-Regierung im Jahr 2022 nahm der Verein erstmals staatliche Unterstützung in Anspruch. Damit konnten die gestiegenen Kosten für Treibstoff, Liegegebühren sowie Personal an Bord und an Land ausgeglichen und die Präsenz der Rettungsschiffe im Einsatzgebiet gewährleistet werden.