Goodbye, SEA-EYE 4: Danke für viele Jahre unerschütterlicher Solidarität
Nach über 4,5 Jahren unermüdlichen Einsatzes für Menschen in Seenot nehmen wir schweren Herzens Abschied von unserer roten Lady, der SEA-EYE 4. Für viele war sie mehr als ein Rettungsschiff – sie wurde zu einem sicheren Hafen mitten im zentralen Mittelmeer und zu einem Symbol der Solidarität im tödlichsten Grenzraum Europas. Gemeinsam mit rund 250 Crewmitgliedern und zahllosen Unterstützer*innen an Land hat sie trotz anhaltender politischer Repressionen rund 3.700 Menschen auf einem Stück ihrer gefährlichen Flucht begleitet. Mit großer Dankbarkeit blicken wir auf 20 Missionen und ihren vielen hunderten Geschichten von Widerstandskraft und Überleben zurück. Wir sind überzeugt, dass das Schiff künftig auch bei unseren italienischen Freund*innen von Mediterranea Saving Humans (MSH) ein leuchtendes Zeichen der Menschlichkeit bleibt. Danke, rote Lady – und DANKE an all die unzähligen Menschen und Partnerorganisationen, die ihrer wichtigen Mission über viele Jahre Leben geschenkt haben.
Ein Rückblick: die großen Momente eines großen Rettungsschiffs
Oktober 2020: Kauf und Umbau der SEA-EYE 4
Sea-Eye erwirbt mit maßgeblicher Unterstützung des Bündnisses United4Rescue ein Offshore-Versorgungsschiff (Baujahr 1972) – und funktioniert es mit rund 250 Ehrenamtlichen innerhalb von sechs Monaten zum Rettungsschiff um. Die SEA-EYE 4 wird das zweite Bündnisschiff von United4Rescue.


28. Februar 2021: Schiffstaufe
Die SEA-EYE 4 wird in Rostock getauft. Die Taufe findet unter strengen Corona-Regeln in kleinem Kreis statt. Taufpate ist der damals 18-jährige Alpha Jor Barry, der 2018 vom Vorgängerschiff ALAN KURDI gerettet wurde. Anschließend wird sie vom Rostocker Werfthafen an ihren Liegeplatz in Burriana überführt.
Mai 2021: Erster Einsatz mit über 400 Geretteten
Am 8. Mai sticht die SEA-EYE 4 zu ihrer ersten Mission in See – erstmals gemeinsam mit der Partnerorganisation German Doctors. Der Einsatz findet mitten in der Corona-Pandemie statt: Alle Crewmitglieder müssen zuvor in Quarantäne und negativ getestet werden. Mit an Bord ist auch Notfallsanitäter und Moderator Tobi Schlegl, der später ein Buch über die Mission veröffentlicht. Insgesamt können bei sechs Einsätzen über 400 Menschen gerettet werden, darunter befinden sich zahlreiche Kinder. Nach dem Einsatz wird das Schiff für drei Monate festgesetzt – wegen formaler „Mängel” bei Zertifikaten und Abwasserentsorgung. Die SEA-EYE 4 kann angepasst und die politisch motivierte Blockade aufgehoben werden.
Oktober / November 2021: Größte Rettung von über 800 Menschen
Bei ihrem dritten Einsatz überhaupt rettet die SEA-EYE 4 gemeinsam mit der RISE ABOVE der Organisation Mission Lifeline in sieben Einsätzen rund 850 Menschen aus Seenot – darunter etwa 170 Minderjährige. Besonders dramatisch: ein überfülltes Holzboot mit über 400 Personen, das bereits Wasser aufnahm. Gemessen an der Zahl der Überlebenden geht die Mission als die bis dato größte Rettungsmission des Schiffes in die Geschichte ein.



Das Jahr 2022: Beginn des restriktiven Kurswechsels durch das Piantedosi-Dekret
Bei einem Einsatz im Juni 2022 rettet die Crew der SEA-EYE 4 erneut rund 500 Menschen. Leider werden nun die ersten Anzeichen eines politischen Kurswechsels in Italien spürbar: Im Dezember erfolgt erstmals eine direkte Hafenzuweisung durch die italienischen Behörden noch während eines laufenden Rettungseinsatzes – eine Vorahnung auf das, was das Piantedosi-Dekret mit sich bringen wird. Es wird zivile Seenotrettungsschiffe dazu verpflichten, nach einer einzelnen Rettung sofort einen – oft weit entfernten – zugewiesenen Hafen anzulaufen, anstatt weitere Rettungen durchzuführen. Bei Zuwiderhandlung drohen hohe Geldstrafen und Schiffsbeschlagnahmungen. Eine Zäsur, die die zivile Seenotrettung in den Folgejahren stark behindern wird.
Februar 2023: Erste Todesfälle im Einsatz
Bei einem Rettungseinsatz im zentralen Mittelmeer kann die Crew der SEA-EYE 4 zwei Menschen nur noch tot bergen – darunter die Mutter eines überlebenden Babys. Es ist das erste Mal, dass Verstorbene an Bord des Schiffes genommen werden. Eine weitere Person stirbt nach einer Notfallevakuierung im Krankenhaus an Land. Es sind dunkle Stunden auf der SEA-EYE 4: Unser Mitgefühl gilt bis heute allen Hinterblieben.
Juni & August 2023: Erste Festsetzungen unter dem Piantedosi-Dekret
Erstmals wird die SEA-EYE 4 im Juni nach der Rettung von insgesamt 49 Menschen im Hafen von Ortona festgesetzt. Grund ist das Piantedosi-Dekret vom Februar 2023: Die Crew hat die Fahrt zum zugewiesenen Hafen unterbrochen, um weiteren Menschen in Seenot zu helfen. Italien verhängt 20 Tage Verwaltungshaft und eine Geldstrafe von 3.333 Euro. Im August folgt die zweite unrechtmäßige Festsetzung für 20 Tage, nachdem in drei Einsätzen 114 Menschen gerettet wurden. Sea-Eye klagt gegen beide Festsetzungen.
Oktober 2023: Dramatische Rettung mit 4 Toten
Mit aggressiven Manövern bedrängt die sogenannte libysche Küstenwache ein überfülltes Schlauchboot in Anwesenheit der SEA-EYE 4. In Panik stürzen mehrere Menschen ins Wasser, vier Personen – darunter ein zwölfjähriges Mädchen – können nur noch tot geborgen werden. 48 Menschen überleben die dramatische Rettung. Nach der Mission wird die SEA-EYE 4 für 20 Tage im Hafen von Vibo Valentia festgesetzt. Die Begründung: Die Besatzung sei den Anweisungen der aggressiv agierenden sogenannten libyschen Küstenwache nicht gefolgt. Sea-Eye klagt auch gegen diese Festsetzung. Ein italienisches Gericht bestätigt später, dass die Verwaltungshaft rechtswidrig war – und die Crew ihrer Pflicht zur Seenotrettung in vollem Umfang nachgekommen ist. Ein Befolgen der Anweisungen der sogenannten libyschen Küstenwache wäre nicht mit dem internationalen Recht vereinbar gewesen.



Feb/März 2024: 2 Todesfälle und 60 Tage Festsetzung
Rund 200 Menschen rettet die SEA-EYE 4 auf ihrer Mission im Februar und März 2024 – darunter auch mehrere Schwerverletzte; zwei Menschen überleben ihre Flucht nicht. Mehrfach bedroht die sogenannte libysche Küstenwache das Schiff. Bei einer Rettung zielt sie mit vorgehaltener Waffe auf das Einsatzboot. Im März wird die SEA-EYE 4 in Italien 60 Tage festgesetzt – die zu diesem Zeitpunkt längste Verwaltungshaft eines Rettungsschiffs unter dem Piantedosi-Dekret. Die Behörden begründen dies erneut mit angeblichen Nichtbefolgen von Anweisungen der sogenannten libyschen Küstenwache – dabei hätte eine Übergabe an Libyen einen völkerrechtswidrigen Pushback dargestellt. Auch andere deutsche Rettungsschiffe werden festgesetzt. Die Crew der SEA-EYE 4 startet eine Petition, die Landcrew trägt den Protest auf die Straße. Zu Recht: Im Juni 2024 erklärt das Gericht in Reggio Calabria auch diese Festsetzung für unrechtmäßig.
November 2024 – Februar 2025: SEA-EYE 4 wird Nothilfezentrum nach Flut in Valencia
Einen Tag vor der schweren Flutkatastrophe in Valencia kehrt die SEA-EYE 4 aus dem Einsatz nach Spanien zurück: Kurzfristig wird sie zum Nothilfezentrum umfunktioniert. In enger Zusammenarbeit mit der lokalen Organisation L’Aurora – einer unersetzbaren Unterstützer-Organisation von Sea-Eye in Burriana seit vielen Jahren – koordinierte die Crew der SEA-EYE 4 die Verteilung von über 14.000 Mahlzeiten, 1.000 Kilogramm frischem Obst und Gemüse, 7.000 Broten und Trinkwasser. Mobile medizinische Teams versorgen abgeschnittene Gebiete, LKW-Ladungen von Spenden werden sortiert und gespendete Fahrräder repariert. Die Crew und rund 400 Ehrenamtliche machen das Schiff in dieser Zeit zu einem zentralen Ort der Hilfe.

Februar / März 2025: Solidarität in der zivilen Flotte – gemeinsame Mission mit Sea-Watch
Im März 2025 führen die Organisationen Sea-Eye und Sea-Watch eine gemeinsame Rettungsmission im zentralen Mittelmeer durch. Die Besatzung der SEA-EYE 4, bestehend aus Mitgliedern beider Organisationen, rettet insgesamt 163 Menschen aus Seenot. Die Mission ist ein gemeinsames Zeichen der Solidarität in der zivilen Flotte – vereint gegen die Abschottungspolitik Europas.

Mai / Juni 2025: Wir nehmen Abschied – und übergeben die Rote Lady an MSH
Die SEA-EYE 4 wird in neue Hände gegeben und von Mediterranea Saving Humans weiterbetrieben: Voller Dankbarkeit für das, was unsere rote Lady in den letzten Jahren geleistet hat, im vollen Vertrauen, dass sie diese Arbeit nun unter neuem Namen weiterführen wird – und mit großer Zuversicht, dass wir als gemeinsam agierende zivile Flotte mit abgestimmten Strategien noch mehr Menschen aus Seenot retten können. Wir danken allen, die in den letzten Jahren daran mitgewirkt haben, die SEA-EYE 4 mit uns auf ihre wichtigen Missionen zu schicken – und viele, viele hunderte Menschen aus Seenot zu retten.
Wir verabschieden uns von der SEA-EYE 4 mit den Worten eines Überlebenden, der in einem Brief aus seiner Sicht genau das beschrieb, was dieses Schiff immer sein sollte – ein sicherer Hafen für Menschen auf der Flucht:
„Ist man auf diesem Schiff, hatte man großes Glück – es bedeutet, man ist in Sicherheit.”