Hawa überlebt: Kampf einer Frau gegen Gewalt und Unterdrückung

TRIGGER-WARNUNG: In diesem Text geht es um sexuelle und sexualisierte Gewalt sowie um Diskriminierungserfahrungen.

Vor fast vier Jahren habe ich eine der denkwürdigsten Erfahrungen meiner journalistischen Laufbahn gemacht: Ich war Teil der Crew auf der SEA-EYE 4, um an ihrer ersten Rettungsmission im Mittelmeer teilzunehmen.

Es war eine lange, anstrengende und dramatische Mission, bei der Sea-Eye 408 Menschen rettete, darunter 150 Kinder. Die meisten von ihnen waren verzweifelt und monatelang von sozialen Kontakten abgeschnitten, während sie in libyschen Gefangenenlagern festgehalten wurden.

Wir haben auch fünf schwangere Frauen gerettet, von denen drei in Libyen vergewaltigt worden waren. Als Journalistin, die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, habe ich ihren Geschichten besondere Aufmerksamkeit geschenkt und mich gefragt, wie sich der Stress der Mütter auf die Babys auswirken würde, die auf einem Kontinent geboren werden, der sie zurückweist und ertrinken lässt.

Als wir im Juni 2021 in Sizilien an Land gingen, war es ein heißer Sommertag und wir waren überglücklich, dass alle die Rettungsaktion unversehrt überstanden hatten.

SEA-EYE 4 Rescue

Nur einen Monat später beschloss ich, nach Frankreich zu reisen, wo einige der französischsprachigen Geretteten Zuflucht gesucht hatten. Ich wollte dokumentieren, wie sich ihre Geschichten in Europa weiterentwickeln würden.

Zuerst traf ich Hawa (Name geändert), eine offenherzige 21-jährige Frau aus Mali, die im dritten Monat schwanger war, als wir sie retteten. Sie reiste allein und suchte in Europa eine Arbeit, um ihre Mutter zu unterstützen, die an einer schweren Krankheit litt und in Armut lebte. 

Hawas Schwangerschaft war die Folge einer brutalen Vergewaltigung in einem libyschen Gefangenenlager, wie sie mir erzählte. „Wenn die Männer in der Haftanstalt dich vergewaltigen, sind sie meistens zu dritt“, erzählte sie uns auf dem Boot, „einer vergewaltigt dich, während der zweite eine Waffe auf dich richtet. Und der dritte filmt das Ganze.“

Wir beschlossen, uns in Paris zu treffen. Wie sie mir erzählte, lebte sie hier, nachdem sie eine Aufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Sizilien verlassen hatte, wo sie mit den anderen Geretteten von Bord gegangen war. Als ich sie am Tag des Treffens anrief, weigerte sie sich jedoch, mir ihre neue Adresse zu nennen. Überrascht fragte ich sie nach dem Grund. Nach einem langen Telefongespräch brach schließlich ihre Stimme und sie erzählte mir die Wahrheit: Nachdem sie Italien verlassen hatte, war sie als Obdachlose auf den Straßen von Paris gelandet. „Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte, also rief ich meine Mutter aus der Pariser Metro an und weinte“, erzählte sie mir. „Ein anderer Mann aus Mali hörte mich auf Bambara sprechen und bot mir an, mich für die Nacht aufzunehmen.”

Als wir uns schließlich trafen, wurde mir klar, dass sie nicht nur eine Unterkunft suchte, sondern auch dringend medizinische Hilfe benötigte. Sie hatte fünf Euro in der Tasche und klagte über gynäkologische Probleme mit unerträglichen Schmerzen und Blutungen. Sie war verwirrt und benommen, wahrscheinlich wegen der Beschwerden. Seit Tagen hatte sie nichts gegessen.

Ich brachte sie sofort zu einer Hilfsorganisation, die Geflüchtete medizinisch versorgt. Nach der medizinischen Untersuchung stellte sich heraus, dass sie kurz nach ihrer Rettung eine Fehlgeburt erlitten hatte. Wahrscheinlich litt sie an einer Infektion, die ihre Genitalverstümmelung verschlimmerte, die vermutlich mit den zahlreichen brutalen Vergewaltigungen zusammenhing, denen sie in Mali ausgesetzt war. (Sie gestattete mir, über das Thema Genitalverstümmelung zu schreiben, um das Bewusstsein für diese schreckliche Praxis zu schärfen, die in vielen afrikanischen Ländern immer noch praktiziert wird.) Es stellte sich heraus, dass sie auch Diabetes hatte.

SEA-EYE 4 Rescue

Die Ärztin der Wohltätigkeitsorganisation riet mir, sie sofort in die Notaufnahme zu bringen, da ihr Blutzuckerspiegel sehr niedrig war. Sie schrieb uns einen Überweisungsschein und bat mich, zum nächstgelegenen Krankenhaus zu fahren, das Menschen aufnimmt, die keinen Zugang zu öffentlichen Geldern haben. Als wir im Krankenhaus ankamen, musste ich auf das Personal einreden, um sicherzustellen, dass sie behandelt wurde. „Wenn sie keinen Ausweis hat, können wir nichts für sie tun“, beschimpfte mich die Person am Empfang. Hawa war verängstigt und konnte kein Wort sagen, obwohl sie fließend Französisch sprach. „Ich war Freiwillige auf dem Schiff, das sie gerettet hat, als sie mitten im Mittelmeer fast ertrunken wäre, und sie ist krank“, schrie ich. Das war alles, was es brauchte, damit die Mediziner*innen endlich Verständnis zeigten und beschlossen, sie aufzunehmen. 

Ich wartete stundenlang mit Hawa in der Notaufnahme. Die Ärzt*innen behandelten sie wegen Diabetes, unternahmen aber nichts gegen die Folgen ihrer Fehlgeburt, ihre Blutungen oder ihre Genitalverstümmelung, obwohl ich ihnen sagte, dass sie wahrscheinlich einem ernsthaften Gesundheitsrisiko ausgesetzt ist. (Bis heute bin ich schockiert: Als Weiße europäische Frau kann ich mir nicht vorstellen, dass mir das passieren könnte. Wenn ich nach einer Fehlgeburt blutend in die Notaufnahme käme, würde man mich nie ignorieren oder mir sagen, dass es nicht so dringend sei. Aber Hawa wurde nur wegen ihres Blutzuckers behandelt.)

SEA-EYE 4 Rescue

Als sie den Untersuchungsraum verließ, schien sie ein anderer Mensch zu sein: Ihr war nicht mehr schwindelig, sie erschien weder schüchtern noch verwirrt. Die Diabetes-Medikamente wirkten. Der Arzt fragte sie, wann sie das letzte Mal Zugang zu Insulin gehabt habe – sie erinnerte sich, dass es in Mali gewesen sei, vor fünf oder sechs Monaten. Es war schwer, sich vorzustellen, wie viele körperliche Schmerzen sie ertragen musste. Ich begleitete sie zu dem Mann, der ihr in der Pariser Metro geholfen hatte. Sie sagte mir, dass sie vorerst bei ihm bleiben würde. Ich sollte mir keine Sorgen um sie machen.

Einen Monat nach unserem Treffen in der Notaufnahme fuhr ich erneut nach Frankreich, diesmal nach Lyon. Hawa war in eine öffentliche Unterkunft für Asylbewerber*innen verlegt worden, während sie auf die Bearbeitung ihres Asylantrags wartete. An diesem Tag aßen wir zusammen Pizza und sprachen über ihr Leben in Frankreich. Ich bemerkte, dass sie sich falsche Wimpern gekauft hatte.

Ich habe nie erfahren, ob sie in Frankreich Asyl bekommen hat. Obwohl sie sporadisch mit mir in Kontakt blieb, war dieser Tag in Lyon das letzte Mal, dass ich sie sah, bevor sie ihre Konten in den sozialen Medien löschte und ihre Telefonnummer änderte.

Hawas Geschichte ist eine Geschichte des Überlebens. Wir danken ihr, dass sie sie mit uns geteilt hat.


Über Sara Cincurova

Sara Cincurova ist eine freiberufliche Menschenrechtsjournalistin. Sie wurde in der Slowakei geboren und lebt aktuell in der Ukraine. Ihre Schwerpunkte sind Migration, Konflikte, Menschenrechte, Außenpolitik, humanitäre Fragen und Frauenrechte. Ihre Artikel erschienen unter anderem in der New York Times, dem Guardian, BBC News und dem Spiegel. 2021 war sie als Journalistin an Bord des Rettungsschiffs SEA-EYE 4 im Mittelmeer unterwegs. Während dieser Mission rettete die Crew 408 Menschen vor dem Ertrinken.

Portrait Sara Cincurova

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