TRIGGER-WARNUNG: In diesem Text geht es um sexuelle und sexualisierte Gewalt sowie um Diskriminierungserfahrungen.

Vor fast vier Jahren habe ich eine der denkwürdigsten Erfahrungen meiner journalistischen Laufbahn gemacht: Ich war Teil der Crew auf der SEA-EYE 4, um an ihrer ersten Rettungsmission im Mittelmeer teilzunehmen.

Es war eine lange, anstrengende und dramatische Mission, bei der Sea-Eye 408 Menschen rettete, darunter 150 Kinder. Die meisten von ihnen waren verzweifelt und monatelang von sozialen Kontakten abgeschnitten, während sie in libyschen Gefangenenlagern festgehalten wurden.

Wir haben auch fünf schwangere Frauen gerettet, von denen drei in Libyen vergewaltigt worden waren. Als Journalistin, die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, habe ich ihren Geschichten besondere Aufmerksamkeit geschenkt und mich gefragt, wie sich der Stress der Mütter auf die Babys auswirken würde, die auf einem Kontinent geboren werden, der sie zurückweist und ertrinken lässt.

Als wir im Juni 2021 in Sizilien an Land gingen, war es ein heißer Sommertag und wir waren überglücklich, dass alle die Rettungsaktion unversehrt überstanden hatten.

SEA-EYE 4 Rescue

Nur einen Monat später beschloss ich, nach Frankreich zu reisen, wo einige der französischsprachigen Geretteten Zuflucht gesucht hatten. Ich wollte dokumentieren, wie sich ihre Geschichten in Europa weiterentwickeln würden.

Zuerst traf ich Hawa (Name geändert), eine offenherzige 21-jährige Frau aus Mali, die im dritten Monat schwanger war, als wir sie retteten. Sie reiste allein und suchte in Europa eine Arbeit, um ihre Mutter zu unterstützen, die an einer schweren Krankheit litt und in Armut lebte. 

Hawas Schwangerschaft war die Folge einer brutalen Vergewaltigung in einem libyschen Gefangenenlager, wie sie mir erzählte. „Wenn die Männer in der Haftanstalt dich vergewaltigen, sind sie meistens zu dritt“, erzählte sie uns auf dem Boot, „einer vergewaltigt dich, während der zweite eine Waffe auf dich richtet. Und der dritte filmt das Ganze.“

Wir beschlossen, uns in Paris zu treffen. Wie sie mir erzählte, lebte sie hier, nachdem sie eine Aufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Sizilien verlassen hatte, wo sie mit den anderen Geretteten von Bord gegangen war. Als ich sie am Tag des Treffens anrief, weigerte sie sich jedoch, mir ihre neue Adresse zu nennen. Überrascht fragte ich sie nach dem Grund. Nach einem langen Telefongespräch brach schließlich ihre Stimme und sie erzählte mir die Wahrheit: Nachdem sie Italien verlassen hatte, war sie als Obdachlose auf den Straßen von Paris gelandet. „Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte, also rief ich meine Mutter aus der Pariser Metro an und weinte“, erzählte sie mir. „Ein anderer Mann aus Mali hörte mich auf Bambara sprechen und bot mir an, mich für die Nacht aufzunehmen.”

Als wir uns schließlich trafen, wurde mir klar, dass sie nicht nur eine Unterkunft suchte, sondern auch dringend medizinische Hilfe benötigte. Sie hatte fünf Euro in der Tasche und klagte über gynäkologische Probleme mit unerträglichen Schmerzen und Blutungen. Sie war verwirrt und benommen, wahrscheinlich wegen der Beschwerden. Seit Tagen hatte sie nichts gegessen.

Ich brachte sie sofort zu einer Hilfsorganisation, die Geflüchtete medizinisch versorgt. Nach der medizinischen Untersuchung stellte sich heraus, dass sie kurz nach ihrer Rettung eine Fehlgeburt erlitten hatte. Wahrscheinlich litt sie an einer Infektion, die ihre Genitalverstümmelung verschlimmerte, die vermutlich mit den zahlreichen brutalen Vergewaltigungen zusammenhing, denen sie in Mali ausgesetzt war. (Sie gestattete mir, über das Thema Genitalverstümmelung zu schreiben, um das Bewusstsein für diese schreckliche Praxis zu schärfen, die in vielen afrikanischen Ländern immer noch praktiziert wird.) Es stellte sich heraus, dass sie auch Diabetes hatte.

SEA-EYE 4 Rescue

Die Ärztin der Wohltätigkeitsorganisation riet mir, sie sofort in die Notaufnahme zu bringen, da ihr Blutzuckerspiegel sehr niedrig war. Sie schrieb uns einen Überweisungsschein und bat mich, zum nächstgelegenen Krankenhaus zu fahren, das Menschen aufnimmt, die keinen Zugang zu öffentlichen Geldern haben. Als wir im Krankenhaus ankamen, musste ich auf das Personal einreden, um sicherzustellen, dass sie behandelt wurde. „Wenn sie keinen Ausweis hat, können wir nichts für sie tun“, beschimpfte mich die Person am Empfang. Hawa war verängstigt und konnte kein Wort sagen, obwohl sie fließend Französisch sprach. „Ich war Freiwillige auf dem Schiff, das sie gerettet hat, als sie mitten im Mittelmeer fast ertrunken wäre, und sie ist krank“, schrie ich. Das war alles, was es brauchte, damit die Mediziner*innen endlich Verständnis zeigten und beschlossen, sie aufzunehmen. 

Ich wartete stundenlang mit Hawa in der Notaufnahme. Die Ärzt*innen behandelten sie wegen Diabetes, unternahmen aber nichts gegen die Folgen ihrer Fehlgeburt, ihre Blutungen oder ihre Genitalverstümmelung, obwohl ich ihnen sagte, dass sie wahrscheinlich einem ernsthaften Gesundheitsrisiko ausgesetzt ist. (Bis heute bin ich schockiert: Als Weiße europäische Frau kann ich mir nicht vorstellen, dass mir das passieren könnte. Wenn ich nach einer Fehlgeburt blutend in die Notaufnahme käme, würde man mich nie ignorieren oder mir sagen, dass es nicht so dringend sei. Aber Hawa wurde nur wegen ihres Blutzuckers behandelt.)

SEA-EYE 4 Rescue

Als sie den Untersuchungsraum verließ, schien sie ein anderer Mensch zu sein: Ihr war nicht mehr schwindelig, sie erschien weder schüchtern noch verwirrt. Die Diabetes-Medikamente wirkten. Der Arzt fragte sie, wann sie das letzte Mal Zugang zu Insulin gehabt habe – sie erinnerte sich, dass es in Mali gewesen sei, vor fünf oder sechs Monaten. Es war schwer, sich vorzustellen, wie viele körperliche Schmerzen sie ertragen musste. Ich begleitete sie zu dem Mann, der ihr in der Pariser Metro geholfen hatte. Sie sagte mir, dass sie vorerst bei ihm bleiben würde. Ich sollte mir keine Sorgen um sie machen.

Einen Monat nach unserem Treffen in der Notaufnahme fuhr ich erneut nach Frankreich, diesmal nach Lyon. Hawa war in eine öffentliche Unterkunft für Asylbewerber*innen verlegt worden, während sie auf die Bearbeitung ihres Asylantrags wartete. An diesem Tag aßen wir zusammen Pizza und sprachen über ihr Leben in Frankreich. Ich bemerkte, dass sie sich falsche Wimpern gekauft hatte.

Ich habe nie erfahren, ob sie in Frankreich Asyl bekommen hat. Obwohl sie sporadisch mit mir in Kontakt blieb, war dieser Tag in Lyon das letzte Mal, dass ich sie sah, bevor sie ihre Konten in den sozialen Medien löschte und ihre Telefonnummer änderte.

Hawas Geschichte ist eine Geschichte des Überlebens. Wir danken ihr, dass sie sie mit uns geteilt hat.


Über Sara Cincurova

Sara Cincurova ist eine freiberufliche Menschenrechtsjournalistin. Sie wurde in der Slowakei geboren und lebt aktuell in der Ukraine. Ihre Schwerpunkte sind Migration, Konflikte, Menschenrechte, Außenpolitik, humanitäre Fragen und Frauenrechte. Ihre Artikel erschienen unter anderem in der New York Times, dem Guardian, BBC News und dem Spiegel. 2021 war sie als Journalistin an Bord des Rettungsschiffs SEA-EYE 4 im Mittelmeer unterwegs. Während dieser Mission rettete die Crew 408 Menschen vor dem Ertrinken.

Portrait Sara Cincurova

Unser Rettungskreuzer SEA-EYE 5 ist auf der tödlichsten Fluchtroute der Welt im Einsatz. Unterstütze jetzt seine Missionen und werde 1 von 3.000 Schiffspat*innen.

30.411 Schweigeminuten. Jede einzelne für ein verlorenes Leben.

Ab dem 24. Februar entsteht im alten Münchner Gasteig, Europas größtem Kulturzentrum, ein besonderer „Raum der Stille“. 21 Tage lang wird hier der 30.411 Menschen gedacht, die seit 2014 auf der Flucht über das Mittelmeer gestorben sind oder als vermisst gelten. Die zivile Seenotrettungsorganisation Sea-Eye e.V. möchte mit dieser Installation auf das fortwährende Sterben im Mittelmeer aufmerksam machen.

Das Mittelmeer ist eine der gefährlichsten und tödlichsten Fluchtrouten der Welt. Seit 2014 haben hier, laut offiziellen Zahlen des europäischen Netzwerks „UNITED for Intercultural Action“, 30.411 Menschen ihr Leben verloren. Die Dunkelziffer ist vermutlich weitaus höher. Viele der Toten und Vermissten wurden namentlich erfasst und ihr Schicksal dokumentiert. Doch die meisten starben anonym – wobei die Familien und Hinterbliebenen bis heute unter ihrem Verlust leiden.

Ein stilles Gedenken – vor Ort und digital
Jede der 30.411 Schweigeminuten in diesem Raum ist einer verstorbenen Person gewidmet. Das Gedenken wird von einer in Echtzeit generierten Unterwasser-Animation begleitet, die mithilfe künstlicher Intelligenz personalisiert wird und sich an die Tageszeit sowie die Lichtverhältnisse in München anpasst. Die einminütigen Videos erzählen die Hintergründe einzelner Fluchtschicksale und machen die Tragödie sichtbar.

Für Besucher*innen des alten Gasteigs ist der „Raum der Stille“ ab dem 24. Februar kostenfrei zugänglich. Um das Gedenken über den physischen Raum hinaus zu tragen, wird die gesamte Aktion per Live-Stream auf www.21TageStille.de übertragen.

Konstanze Schön, Pressesprecherin bei Sea-Eye: „Für viele ist die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer leider zur Normalität geworden. Umso wichtiger ist es, dass wir uns der Schicksale der Menschen bewusst werden, die auf der Suche nach Schutz gestorben sind, und erkennen, dass wir als Gesellschaft die Menschenrechte – allen voran das Recht auf Leben – wieder in den Mittelpunkt aller politischen Entscheidungen stellen müssen. Es ist die Aufgabe der EU und ihrer Mitgliedstaaten, endlich menschenrechtsbasierte Lösungen zu finden und eine staatlich organisierte Seenotrettung zu etablieren, die das Sterben im Mittelmeer beendet.“

Für die Idee zeichnet sich die Agentur thjnk Germany verantwortlich, die die Aktion mit einer crossmedialen Kampagne in TV und OOH begleitet.

Die Seenotrettungsorganisationen Sea-Eye e.V. und Sea-Watch e.V. haben einen gemeinsamen Rettungseinsatz im zentralen Mittelmeer gestartet. Mit dem Rettungsschiff SEA-EYE 4 ist eine 28-köpfige Crew aus Mitgliedern beider Organisationen auf dem Weg an eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt. Eine Woche vor der Bundestagswahl rufen die beiden deutschen Organisationen alle Parteien dazu auf, sichere und legale Fluchtwege zu schaffen.

Die Zusammenarbeit zwischen Sea-Eye und Sea-Watch ist eine Antwort auf das andauernde Sterben im Mittelmeer. Trotz der politischen Widerstände auch in Deutschland, bleiben die Organisationen ihrem Auftrag treu: Menschenleben zu retten und auf die systematische Unterlassung staatlicher Rettungseinsätze aufmerksam zu machen. Der gemeinsame Einsatz ist nicht nur eine Reaktion auf die akute Notlage, sondern auch ein Zeichen der Solidarität. Die europäische Zivilgesellschaft darf nicht zuschauen, wenn Menschen ertrinken.

„Die Zusammenarbeit von Sea-Eye und Sea-Watch ist ein starkes Signal des Zusammenhalts und der Solidarität. In Zeiten von Ausgrenzung, Hass und Hetze kämpfen wir gemeinsam auf einer der tödlichsten Fluchtroute der Welt um jedes Menschenleben. Wir zeigen, dass humanitäre Hilfe keine Grenzen kennt“, erklärt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye.

Auch von Seiten Sea-Watchs wird die Zusammenarbeit als notwendiger Schritt betont: „Jede Kooperation stärkt unseren Einsatz, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Eine Woche vor der Bundestagswahl fordern wir sichere und legale Fluchtwege für alle. Denn Politiker, die nur nach Zäunen schreien, ändern rein gar nichts am Sterben im Mittelmeer“, so Giulia Messmer, Sprecherin von Sea-Watch.

Die SEA-EYE 4 ist ein speziell für Rettungseinsätze umgerüstetes Schiff, das bereits über 3.800 Menschen vor dem Ertrinken bewahrt hat. Der aktuelle Einsatz wird Schutzsuchende sicher an Land bringen und medizinische Erstversorgung leisten. Die Crew besteht aus erfahrenen Seenotretterinnen, Medizinern und technischen Fachkräften.

Unterstützt wird der Einsatz durch das breite Bündnis United4Rescue und die Initiative LeaveNoOneBehind
Trotz internationaler Verpflichtungen zur Seenotrettung wird die zivile Seenotrettung zunehmend durch europäische Staaten behindert. Über 2.300 Menschen sind allein 2024 im Mittelmeer ertrunken. Die Organisationen rufen die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten dazu auf, ihre Blockadehaltung zu beenden und legale sowie sichere Fluchtwege zu schaffen.

Schlamm in den Tiefgaragen, Müllberge auf Fußballplätzen und aufgetürmte Autos: Noch viele Wochen nach der Flutkatastrophe in Spanien sind die Folgen verheerend. Mittendrin: Rund 400 Freiwillige von Sea-Eye und unserer spanischen Partnerorganisation L’Aurora, die seit der Flut Ende Oktober 2024 unermüdlich in der Region Valencia im Einsatz sind. Unsere Bilanz aus 60 Tagen Dauereinsatz im letzten Jahr…

Jeden Tag bereiteten unsere Crew und die ehrenamtlichen Helfer*innen auf der SEA-EYE 4 Essen vor und brachten es zu den Betroffenen: Insgesamt 14.000 Mahlzeiten, 3.000 Sandwiches, 1.000 kg Obst und Gemüse, 7.000 Brote und immer wieder auch besondere Leckereien fanden ihren Weg zu den Menschen. Freiwillige sammelten Trucks voller Spenden, sortierten sie und brachten sie direkt in die betroffenen Viertel. Gespendete Fahrräder wurden repariert, um den Menschen ihre Mobilität zurückzugeben. Auch Schutzsuchende haben wir nicht vergessen: Besonders im nahegelegenen Sagunt unterstützten wir die Menschen, die oft durch das Raster staatlicher Unterstützung fallen.

Zu Silvester brachten die Ehrenamtlichen zusätzlich Weintrauben mit den üblichen Essenslieferungen nach Valencia – um eine besondere spanische Tradition zu ermöglichen. Mit jedem Glockenschlag um Mitternacht wird in Spanien eine Traube gegessen, wobei jeder Bissen einen Wunsch für das neue Jahr symbolisiert: Mögen viele dieser Wünsche in Erfüllung gehen für die Menschen in dieser schwer getroffenen Region, die uns im Hafen von Burriana in der Vergangenheit so viel Solidarität gezeigt haben. 

Unsere 12 Trauben-Neujahrswünsche sind klar: Viel Unterstützung für die Arbeit vor Ort, die wir gemeinsam mit L’Aurora auch nach diesen ersten 60 Tagen Dauereinsatz weiter fortsetzen. Mit einer Spende kannst du dies unterstützen.

Waves

Eineinhalb Jahre liegt das Staatsverbrechen nahe Pylos zurück, bei dem über 600 Menschen auf dem Weg nach Europa starben. Trotz der unwiderlegbaren Beweise und der Zeugenaussagen der Überlebenden des Schiffbruchs wurden die für dieses Verbrechen Verantwortlichen immer noch nicht vor Gericht gestellt. Die Täter setzen ihre Arbeit weiterhin ungestraft fort, was nicht nur eine ständige Bedrohung für Menschen auf der Flucht darstellt, sondern auch die Straffreiheit verdeutlicht, die ihnen gewährt wird.

Das staatliche Verbrechen von Pylos war weder Einzelfall noch das letzte seiner Art. Der Schiffbruch ist das Ergebnis der zunehmenden systematischen Gewalt gegen Menschen, die nach Griechenland und in die EU gelangen wollen. Die zunehmende Entmenschlichung dieser Menschen hat zu einem entsetzlichen Zustand geführt: Die repressive Grenzsicherungs- und Militarisierungspolitik der EU bedeutet für die Menschen auf der Flucht noch mehr Gewalt und ständige Verletzungen ihrer Rechte. Pushback-Operationen, willkürliche und langandauernde Inhaftierungen in Haftzentren in Ländern an den europäischen Außengrenzstaaten und die Zusammenarbeit mit autoritären Regimen in Nachbarländern haben zu beispiellosen Zahl von Toten und Vermissten geführt.

Vor eineinhalb Jahren, am 14. Juni 2023, wurde den griechischen Behörden gemeldet, dass das Fischerboot Adriana mit 750 Menschen an Bord in akuter Gefahr sei. Trotzdem verzögerten sie absichtlich jede Rettungsaktion. Zunächst ignorierten die zuständigen Behörden die Notrufe und beobachteten das Boot lediglich, dann versuchten sie, die Adriana aus der griechischen Such- und Rettungszone herauszuschleppen, wodurch sie kenterte. Bei diesem zynischen und tödlichen Vorgehen wollten die Behörden Augenzeugen vermeiden. Sie lehnten nicht nur die Hilfe der EU-Agentur Frontex ab. Sie wiesen auch Handelsschiffe zurück, die Unterstützung hätten leisten können. Nach dem Untergang der Adriana berichteten Überlebende von unbegründeten Verzögerungen bei der Rettung, wodurch letztlich nur 104 Menschen gerettet werden konnten. Statt den Überlebenden zu helfen, gingen die griechischen Behörden sogar einen Schritt weiter und klagten die gerade erst Geretteten unmittelbar wegen “illegaler Einreise” ins Land an. In einem Versuch, den öffentlichen Aufschrei und internationale Verurteilungen abzuwenden, wiesen die Behörden jede Verantwortung für den Tod von über 600 Menschen von sich. Stattdessen beschuldigten sie neun der Überlebenden, sie seien “Schleuser” und für den Schiffsbruch verantwortlich. Diese neun Angeklagten, die selbst Überlebende sind, wurden im Mai 2024 endlich von den griechischen Gerichten freigesprochen. Dennoch bleibt ihnen das Recht auf Entschädigung für fast ein Jahr, das sie zu Unrecht im Gefängnis verbrachten, verwehrt.

Nachdem die griechische Küstenwache sich weigerte, eine interne Untersuchung zu den Handlungen ihrer Führungsebene und Beamten einzuleiten, nahm der europäische Ombudsmann für Griechenland die Sache in die Hand und prüft aus eigenem Antrieb die entsprechenden Staatsakte und -versäumnisse. Nach Strafanzeigen der Überlebenden laufen zudem seit über einem Jahr Ermittlungen zu den Ursachen des Staatsverbrechens. Die hierfür zuständigen Behörden des Marinegerichts Piräus prüfen dabei die strafrechtliche Verantwortung für den Schiffsbruch. Das Ermittlungsverfahren wurde jedoch erst Ende November abgeschlossen. Die Entscheidung, ob gegen die Verantwortlichen Anklage erhoben wird, liegt nun beim Generalstaatsanwalt des Seegerichts.

Die Behandlung der meisten Überlebenden des Schiffsbruchs verstößt auch gegen völkerrechtliche Pflichten des griechischen Staates, einschließlich der Verantwortung, Überlebenden psychosoziale Unterstützung zu gewähren. Nicht nur wurde den meisten der Überlebenden der internationale Schutzstatus verweigert, sie sind auch von Abschiebung bedroht. Gleichzeitig warten viele Familien der Opfer noch immer auf die Rückführung der Leichname ihrer Angehörigen, die bislang nicht stattgefunden hat.

Die Forderung nach Gerechtigkeit für das Staatsverbrechen von Pylos ist das Mindeste, was wir den Opfern des Schiffsbruchs und ihren Angehörigen schulden, ebenso wie den Überlebenden, die unvorstellbare Traumata erlitten haben. Doch es geht um mehr: Es ist ein entscheidender Schritt im Kampf für den Schutz von Migrierenden und ihren Rechten. In einer Zeit, in der europäische Regierungen Diskriminierung, Rassismus und Ausbeutung vorantreiben, erheben wir unsere Stimmen für eine Welt, die von Gerechtigkeit und Solidarität geprägt ist.

Das Staatsverbrechen von Pylos wird weder vergessen noch vergeben werden.

Die unterzeichnenden Organisationen fordern:

  • Eine lückenlose Aufklärung der Ursachen des „Pylos-Schiffsbruchs“ und die Strafverfolgung der tatsächlichen Verantwortlichen.
  • Die Bereitstellung notwendiger psychosozialer Unterstützung und die Gewährung internationalen Schutzes für alle Überlebenden.
  • Ein sofortiges Ende der Kriminalisierung von Migration und der Verfolgung von „Schleuserkriminalität“ als Vorwand für die systematische Inhaftierung von Menschen auf der Flucht.
  • Ein sofortiges Ende der zunehmend tödlichen Grenzgewalt.

Zur Erklärung mit allen unterzeichnenden Organisationen

Ein Antrag der Fraktion stellt eine finanzielle Unterstützung nur dann in Aussicht, wenn der Verein gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt.

In dem Beschlussantrag, der auf der Tagesordnung des Konstanzer Kreistags am 09.12.2024 steht, wird die zivile Seenotrettungsorganisation dazu aufgefordert, „die aus Seenot aufgegriffenen Menschen zurück zu ihrem Ursprung/-Abfahrtsort, die afrikanische Küste bzw. gegebenenfalls die türkische Küste“ zu bringen. Andernfalls solle die finanzielle Unterstützung durch den Landkreis eingestellt werden. Falls Sea-Eye den vorgeschlagenen illegalen Rückführungen zustimmen würde, wäre die CDU-Fraktion sogar bereit, über eine Erhöhung der Förderung zu diskutieren. Unterzeichnet wurde das Dokument von Bernd Häusler, Fraktionsvorsitzender und Oberbürgermeister der Stadt Singen. 

Dass ein solches Vorgehen völkerrechtswidrig wäre, wird in dem Antrag nicht erwähnt. Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V., kommentiert: „Beim Lesen des Dokuments wird deutlich, dass sich die Verfasser*innen weder mit der geltenden Gesetzgebung noch mit der aktuellen Situation im Mittelmeer beschäftigt haben. Wir werden uns selbstverständlich weiterhin an die Gesetze halten und lehnen eine Unterstützung durch den Landkreis Konstanz unter diesen menschenrechtswidrigen Bedingungen entschieden ab.“

Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention verbieten grundsätzlich die Rückführung von Menschen in Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen drohen. Erst im Februar diesen Jahres hat das oberste italienische Berufungsgericht die Übergabe von Menschen an die sogenannte libysche Küstenwache als Straftat eingestuft, da Libyen aufgrund schwerer Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Vergewaltigung und Mord kein sicherer Ort sei. Zudem schreibt das Internationale Übereinkommen von 1979 zur Seenotrettung vor, dass Menschen in Seenot nicht nur gerettet und medizinisch erstversorgt, sondern auch an einen sicheren Ort („place of safety“) gebracht werden müssen.

Die CDU-Kreistagsfraktion begründet ihren Antrag damit, dass die Präsenz ziviler Seenotrettungsschiffe „Anreize für irreguläre Migration und lebensbedrohliche Migrationsrouten verfestigen“ würde. Diese Argumentation haben bereits mehrere wissenschaftliche Studien – beispielsweise der Universität Potsdam oder des European University Institute und des Italian Institute of International Policy Studies – widerlegt: Ein Zusammenhang zwischen der Anwesenheit ziviler Rettungsschiffe und der Zahl der Menschen, die die gefährliche Überfahrt wagten, wurde durch die Wissenschaftler*innen nicht festgestellt. Vielmehr deuten Analysen darauf hin, dass Fluchtbewegungen über das zentrale Mittelmeer durch Fluchtursachen wie Konflikte, Verfolgungen, ökologische Bedingungen und den Klimawandel beeinflusst werden.

Das Gericht von Vibo Valentia bestätigt die Pflicht zur Seenotrettung – und bekräftigt, dass das Befolgen von Anweisungen der sogenannten libyschen Küstenwache nicht mit dem internationalen Recht vereinbar ist.

Die Regensburger Seenotrettungsorganisation Sea-Eye e.V. hat einen bedeutenden juristischen Erfolg erzielt: Das Gericht von Vibo Valentia hat in einem Urteil entschieden, dass die Besatzung der SEA-EYE 4 bei einem Einsatz im Mittelmeer im vergangenen Jahr ihrer Pflicht zur Seenotrettung in vollem Umfang nachgekommen ist. In dem Verfahren ging es um eine 20-tägige Festsetzung, die im Oktober 2023 gegen das Schiff verhängt worden war.

Die Richterin stellte klar, dass die von Sea-Eye durchgeführte Rettung zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für die Sicherheit der beteiligten Personen dargestellt habe. Zudem betonte sie, dass ein Befolgen der Anweisungen der sogenannten libyschen Küstenwache nicht mit dem internationalen Recht vereinbart gewesen wäre.

„Erneut entschieden Italiens Gerichte gegen die italienische Politik und die italienische Verwaltungspraxis. Wir konnten beweisen, dass die Festsetzung ziviler Rettungsschiffe rechtswidrig ist! Dieses Urteil ist deshalb ein Erfolg auf ganzer Linie, weil sich die Richterin nicht auf Verfahrensfragen konzentrierte, sondern die Pflicht zur Seenotrettung betonte und klarstellte, dass kein Mensch im Mittelmeer ertrinken darf“, erklärt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V.

Die SEA-EYE 4 war am 30. Oktober 2023 von den italienischen Behörden festgesetzt worden, nachdem sich die Besatzung geweigert hatte, den Anweisungen der sogenannten libyschen Küstenwache Folge zu leisten. Bei dem Einsatz am 27. Oktober 2023 wurden rund 50 Menschen gerettet. Die Besatzungsmitglieder der SEA-EYE 4 dokumentierten dabei die rücksichtslosen und brutalen Methoden der sogenannten libyschen Küstenwache. Unter Androhung von Gewalt wurde die SEA-EYE 4 aufgefordert, das Seegebiet zu verlassen. Nach mehreren gefährlichen Manövern der unter libyscher Flagge fahrenden Schiffe konnte die Sea-Eye-Besatzung vier der schutzsuchenden Menschen nur noch tot aus einem Schlauchboot bergen.

Seit 2018 sind mehr als 1.500 Kinder im Mittelmeer ertrunken.

Am 20. November 2024 jährt sich die Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention zum 35. Mal. Doch das Abkommen, das den Schutz und die Rechte von Kindern weltweit sichern soll, steht in gravierendem Gegensatz zur Realität an den Grenzen Europas: Seit 2018 sind laut UNICEF mehr als 1.500 Kinder auf der tödlichsten Fluchtroute der Welt ertrunken – allein im Jahr 2023 verloren etwa 300 Kinder auf der Suche nach Schutz ihr Leben im Mittelmeer.

„Es ist unerträglich, dass Kinder weiterhin im Mittelmeer ihr Leben verlieren, obwohl sich alle EU-Mitgliedstaaten mit der Unterzeichnung der UN-Kinderrechtskonvention dazu verpflichtet haben, das Leben und die Rechte jedes Kindes zu schützen. Diese Verpflichtung darf keine leere Erklärung bleiben. Wir müssen handeln, um das Sterben an Europas Grenzen zu beenden und Kinder auf der Flucht zu schützen”, sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V.

Die UN-Kinderrechtskonvention gilt laut Deutschem Kinderhilfswerk als das wichtigste Menschenrechtsinstrument für Kinder und ist die Konvention, die bisher von den meisten Staaten unterzeichnet wurde. Sie wurde am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und trat am 2. September 1990 völkerrechtlich in Kraft. Seit 1992 gilt sie auch in Deutschland.

Bis Ende 2023 waren laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen weltweit mehr als 117 Millionen Menschen auf der Flucht. Rund 40 Prozent von ihnen sind minderjährig. Sea-Eye hat seit 2016 mehr als 18.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet – darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche. Im Rahmen einer Kampagne zum 35. Jahrestag der UN-Kinderrechtskonvention macht der Verein auf das Schicksal von Kindern auf der Flucht aufmerksam.

Weitere Informationen

Die zivile Seenotrettungsorganisation Sea-Eye unterstützt die spanische NGO L’Aurora bei Soforthilfen in besonders betroffenen Regionen Valencias.

Die Flutkatastrophe in Spanien hat bislang über 200 Menschen das Leben gekostet, viele werden noch vermisst. Um Menschen mit Lebensmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln zu versorgen, wird die SEA-EYE 4, die derzeit im Hafen von Burriana liegt, als Hilfszentrum genutzt. Küche, Sanitätsstation und Schlafmöglichkeiten auf dem Rettungsschiff stehen den Helfer*innen der Flutkatastrophe zur Verfügung. Die Besatzungsmitglieder engagieren sich zudem ehrenamtlich im Krisengebiet, kochen Mahlzeiten und verteilen Wasser, Erste-Hilfe-Pakete sowie Sicherheitsausrüstung.

Vicent Aleixandre, Gründer von L’Aurora und Koordinator der Aktion in dem betroffenen Gebiet, begrüßt jede Art von Hilfe: „Unsere Leute haben alles verloren. Die Armut in den betroffenen Gemeinden wird sich exponentiell vervielfachen. Als Gesellschaft müssen wir ihnen zur Seite stehen und Mechanismen und Instrumente entwickeln, um den Bedürftigsten zur Seite zu stehen.“

Anna di Bari, Vorstandsmitglied von Sea-Eye, ergänzt vor Ort: „Das Ausmaß der Zerstörung ist auf den Bildern kaum zu erkennen, Gespräche mit Betroffenen geben einen Einblick, was die Menschen verloren haben. Mit L’Aurora haben wir einen engen Verbündeten, der die Region gut kennt und mit voller Überzeugung dort hilft, wo kaum Hilfe ankommt. Dass Sea-Eye dabei unterstützt, ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Denn gerade die Region um Valencia hat uns in den vergangenen Jahren mit Solidarität und Herzlichkeit aufgenommen, wenn wir im Hafen von Burriana lagen.“

Für den Hilfseinsatz sammelt Sea-Eye derzeit Spenden. Interessierte finden weitere Informationen hier: Solidarity with València

Italienische Küstenwache evakuierte medizinischen Notfall

Am Donnerstagmittag, 07.11.2024, brachte der Rettungskreuzer SEA-EYE 5 insgesamt 78 Überlebende aus zwei verschiedenen Seenotfällen, die sich vor Lampedusa ereignet hatten, in Pozzallo auf Sizilien in Sicherheit.

Die Einsatzleitung von Sea-Eye hatte sich zuvor ab Dienstag um die Zuweisung eines nahegelegenen Hafens bemüht, woraufhin die italienische Küstenwache Ortona zugewiesen hatte, obwohl sie bereits aufgrund eines Rettungsfalls in der letzten Woche wusste, dass der Sea-Eye Rettungskreuzer aus technischen Gründen eine solch weite Strecke nicht zurücklegen kann. Zudem ist für die Überlebenden ein Verbleib auf der SEA-EYE 5 für mehr als 24 Stunden aus humanitären Gründen nicht zumutbar. Erst am Mittwochabend nannte die italienische Küstenwache schließlich Pozzallo als Ausschiffungshafen.

Es ist einfach beeindruckend, dieses ehemalige DGzRS-Schiff auf dem Mittelmeer im Einsatz zu sehen. Schiff und Besatzung leisteten in den vergangenen zwei Wochen überragende Arbeit und retteten insgesamt 175 Menschenleben. Die ehemalige NIS RANDERS wird noch viele Leben bewahren“, sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V.

Neben verschiedenen kleineren Verletzungen musste ein Patient mit einer schweren chronischen Krankheit an Bord behandelt werden. Ein weiterer Patient litt an einer sich schnell entwickelnden Wundinfektion. Ihm ging es schließlich so schlecht, dass die italienische Küstenwache ihn evakuieren musste. Nachdem ich einige Zeit mit den geflüchteten Menschen verbracht und Vertrauen aufgebaut hatte, berichteten sie von Gewalt, Folter und unmenschlichen Lebensbedingungen, die sie in Libyen erfahren haben“, schildert Einsatzärztin, Tamsin Drew, von German Doctors die medizinische Lage.

Die Besatzung der SEA-EYE 5 hatte am Dienstag und Mittwoch in drei Einsätzen 110 Menschen vor Lampedusa gerettet. 31 Personen aus dem dritten Rettungseinsatz wurden am Mittwoch von der italienischen Küstenwache vor Lampedusa übernommen. Zudem wurde eine weitere Person von der italienischen Küstenwache aus medizinischen Gründen von Bord evakuiert. Seit Dienstagmorgen kam es vor der Mittelmeerinsel zu mehreren Seenotfällen.