SEA-EYE 4

Das Schiff wird weiterhin als Teil der zivilen Flotte Menschenleben im Mittelmeer retten.

Nach über viereinhalb Jahren im Einsatz für Sea-Eye wechselt die SEA-EYE 4 den Besitzer: Im Rahmen einer strategischen Neuausrichtung hat der Verein beschlossen, das Schiff an die italienische Organisation Mediterranea Saving Humans zu übergeben. Unter ihrem neuen Namen MEDITERRANEA wird sie weiterhin Menschenleben retten und als fester Bestandteil der zivilen Rettungsflotte agieren.

Die Übertragung der SEA-EYE 4 verdeutlicht die gelebte Solidarität der zivilen Akteur*innen im Mittelmeer. Angesichts der stetig wachsenden Hindernisse, die die EU und ihre Mitgliedstaaten der zivilen Seenotrettung in den Weg legen, müssen die Organisationen ihre Strategien kontinuierlich anpassen. Insbesondere Schiffe unter italienischer Flagge sind Kriminalisierungsversuchen ausgesetzt. So müssen sich ab Oktober 2025 sechs Aktivist*innen von Mediterranea Saving Humans wegen angeblicher Beihilfe zur illegalen Einwanderung vor Gericht verantworten. Die Anklage bezieht sich auf eine Rettung aus dem Jahr 2020, bei der die Organisation 27 Menschen gerettet hatte, die seit über einem Monat auf dem Meer trieben. Da die SEA-EYE 4 alle Voraussetzungen erfüllt, um unter deutscher Flagge zu operieren, eröffnen sich Mediterranea Saving Humans künftig neue Rechtsgrundlagen und damit verbundene Handlungsspielräume. Auch Sea-Eye hat die Strategie angepasst: Um flexibler agieren zu können, setzt der Verein fortan auf eine Flotte kleinerer Schiffe; seit Oktober 2024 ist dazu bereits der Rettungskreuzer SEA‑EYE 5 im Einsatz.

„Dass Mediterranea Saving Humans nun unter deutscher Flagge operiert, schützt die Organisation vor zusätzlichen Kriminalisierungsversuchen durch die italienische Regierung und stärkt dadurch ihre Präsenz auf einer der tödlichsten Fluchtrouten der Welt. Während die EU und ihre Mitgliedstaaten gezielt daran arbeiten, Fluchtwege gefährlicher zu machen, um die Zahl der Ankünfte zu reduzieren, stehen wir gemeinsam für einen zivilgesellschaftlichen Gegenentwurf zu einem zunehmend brutalen Grenzregime. Wir werden unsere Kräfte weiterhin dort bündeln, wo sie möglichst viele Leben retten, und uns gemeinsam entschlossen gegen die Politik der Abschottung und Abschreckung an Europas Außengrenzen stellen“, erklärt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye. „Die SEA-EYE 4 war unser bisher größtes Projekt. Allen Engagierten, Spender*innen und Partnerorganisationen, die ihre Einsätze bisher ermöglicht haben, sind wir unendlich dankbar.“

„Die italienischen Behörden beschuldigen uns, sie verfolgen uns, sie nutzen die Geheimdienste, um juristische Machenschaften zu konstruieren und uns als ‚Bedrohung der nationalen Sicherheit‘ einzustufen. Sie möchten uns einschüchtern, uns in die Ecke drängen und zu verzweifelten Opfern voller Ressentiments machen. Aber das wird nie geschehen. Die Kraft, die wir daraus schöpfen, um alles zu tun, was in unserer Macht steht, um Leben zu retten, ist um ein Vielfaches größer als alle politischen Versuche, uns Steine in den Weg zu legen. Heute ist die zivile Flotte stärker als zuvor, heute verdoppelt sich mit Unterstützung von Sea-Eye die Größe von Mediterranea. Die SEA-EYE 4 wird zur MEDITERRANEA und setzt ihre Mission als Schiff der Fürsorge und Würde fort“, betont Luca Casarini, Mitbegründer und Einsatzleiter von Mediterranea Saving Humans.

Die SEA-EYE 4 ist ein ehemaliges Offshore-Versorgungsschiff, das 2020 von Sea-Eye mit Unterstützung des Bündnisses United4Rescue erworben und von rund 250 Ehrenamtlichen in ein Rettungsschiff umgebaut wurde. Im Mai 2021 startete sie in ihren ersten Einsatz – und konnte seither in 20 Missionen über 3.700 Menschen aus Seenot retten.


293 Organisationen fordern eine verantwortungsvolle Migrations- und Asylpolitik

Mit ihrem Koalitionsvertrag stellen Union und SPD die Verantwortung für Deutschland ins Zentrum ihres Handelns. Zum Amtsantritt der Regierung machen 293 Organisationen und Verbände deutlich: Diese Verantwortung muss für alle Menschen in Deutschland gelten.

Der Wahlkampf war geprägt von einer aufgeheizten Stimmung, die sich vor allem gegen Geflüchtete und Zugewanderte richtete. Das hat sich auch im Koalitionsvertrag niedergeschlagen. Doch die Ausgrenzung einzelner Gruppen schafft ein Klima der Angst für alle und untergräbt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Am Ende nützt das nur den Feinden einer freiheitlichen Demokratie. Damit muss endlich Schluss sein.

Zugewanderte und hierher geflüchtete Menschen sind integraler Teil unserer Gesellschaft – sie gehören zu Deutschland. Sie bereichern uns in allen Bereichen, ob in Familie und Freundeskreis, der Nachbarschaft, den Schulen, den Sportvereinen oder den Betrieben. Viele von ihnen leisten jeden Tag unverzichtbare Arbeit – im Einzelhandel, im Krankenhaus, in der Industrie, in der Gastronomie, an Flughäfen, im öffentlichen Nahverkehr oder ehrenamtlich in Vereinen und gemeinnützigen Organisationen. Für uns ist klar: Unsere Gesellschaft gewinnt ihre Stärke aus Offenheit, Vielfalt und der Überzeugung, dass allen Menschen gleiche Rechte zukommen.

Nicht Geflüchtete und Zugewanderte spalten unsere Gesellschaft, sondern eine Politik, die sich den strukturellen und sozialen Problemen unseres Landes zu lange nicht konsequent angenommen hat. Die mittlerweile in der Gesellschaft verbreiteten Gefühle von Verunsicherung und Überforderung beim Thema Flucht und Migration werden somit noch verstärkt, anstatt ihnen mit guten Konzepten für eine funktionierende Asyl-, Aufnahme-, und Integrationspolitik zu begegnen. Für die hohe Belastung von Kommunen und einzelnen Berufsgruppen im Zusammenhang mit Migration werden allein Geflüchtete verantwortlich gemacht, anstatt die tatsächlichen sozialen, politischen und finanziellen Ursachen dieser Belastung anzugehen. So darf es nicht weitergehen. Was es jetzt braucht, ist eine Migrationspolitik, die verantwortlich handelt, statt unsere offene und vielfältige Gesellschaft zu gefährden.

Eine solche verantwortungsvolle Migrationspolitik…

…schützt die Rechte der Einzelnen und somit aller – das gilt insbesondere auch für das Recht auf Asyl. Das Bekenntnis zum Recht auf Asyl im Koalitionsvertrag ist essentiell, reicht aber allein nicht aus. Es muss auch gelebt werden. Zurückweisungen an den Grenzen, Abschiebungen in Krisenländer und eine Beweislastumkehr im Asylverfahren zulasten Geflüchteter sind damit nicht vereinbar.

…nimmt Sorgen und Ängste ernst, ohne sie zu befeuern. Eine demokratische Gesellschaft lebt von der streitbaren Diskussion und verschließt nicht die Augen vor Herausforderungen. Doch dabei darf die kommende Bundesregierung nicht den humanitären und menschenrechtlichen Kompass verlieren, der Grundlage unseres Zusammenlebens ist.

…fördert die Integration aller Menschen. Die nächste Bundesregierung sollte Familien Sicherheit bieten, statt mit der Aussetzung des Familiennachzugs Integration zu verhindern. Auch braucht es weiterhin Chancen für diejenigen, die schon lange bei uns sind, weshalb das Erfolgsmodell des Chancen-Aufenthaltsrechts entfristet werden sollte. Für ein freiheitliches Zusammenleben müssen zudem Wege zu sicheren und gleichen Bürgerrechten durch Einbürgerung eröffnet werden, die keine Gruppen ausschließen. Integration darf dabei nicht allein von der Arbeitsmarktintegration abhängig gemacht werden, sondern es muss allen möglich sein, gleichberechtigte Mitglieder unserer Gesellschaft zu werden.

…investiert in Strukturen für erfolgreiche Integration und Aufnahme. Die im Koalitionsvertrag benannten Investitionen in die Integrationsstrukturen sind von entscheidender Bedeutung und dürfen nicht unter Finanzierungsvorbehalt gestellt werden. Dies gilt insbesondere für die vielfältigen zivilgesellschaftlichen Beratungs- und Betreuungsstrukturen sowie Integrations- und weitere Sprachkurse. Integration gelingt vor Ort in den Kommunen – diese müssen daher für ihre Aufgaben effektiv, umfassend und nachhaltig finanziell ausgestattet werden.

…nutzt alle vorhandenen Potentiale. Angesichts des Fachkräftemangels sollte die Bundesregierung konsequent alle vorhandenen Potentiale von hier ankommenden und lebenden Menschen nutzen und Hürden für Qualifikation und Arbeitsaufnahme abbauen. Hier sind bereits wichtige Schritte im Koalitionsvertrag vereinbart, doch braucht es darüber hinaus einen echten Spurwechsel und den konsequenten Abbau der Arbeitsverbote für alle Geflüchteten. Auch Gruppen wie Alleinerziehende oder Geflüchtete mit Behinderungen müssen beim Zugang zum Arbeitsmarkt unterstützt werden.

…schaut über den nationalen Tellerrand. Den weltweit zu beobachtenden autoritären Entwicklungen sollte die neue Bundesregierung mit der Verteidigung einer offenen, liberalen Gesellschaft begegnen, statt die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz durch die Streichung des sogenannten „Verbindungselements“ auf Drittstaaten abzuwälzen oder sich durch fragwürdige Abkommen mit Drittstaaten in politische Abhängigkeiten zu begeben. Sie sollte sich für eine solidarische Verantwortungsteilung im internationalen Flüchtlingsschutz einsetzen und sichere Zugangswege in Form von Resettlement und Aufnahmeprogrammen eröffnen, statt sie zu beenden.

Die unterzeichnenden Verbände leisten täglich ihren Beitrag für eine Gesellschaft, die ihre Stärke aus Offenheit, Vielfalt und der Zusammenarbeit von Menschen verschiedenster Herkunft, Hintergründe und Fähigkeiten gewinnt. Wer die Demokratie verteidigen will, muss auch die Zivilgesellschaft und insbesondere migrantische Selbstorganisationen achten und stärken.

Daher appellieren wir an die Bundesregierung: Übernehmen Sie Verantwortung für eine offene Gesellschaft! Eine Gesellschaft, in der Einwanderung unterschiedlichster Art als Chance begriffen wird; in der Zugewanderte und Geflüchtete als gleichwertig anerkannt werden; in der Offenheit und Vielfalt als unsere Stärken begriffen werden.

Den vollständigen Appell sowie die Liste der unterzeichnenden Organisationen finden Sie hier: Appell an die Bundesregierung von 293 Organisationen

Der zivile Rettungskreuzer brachte die geretteten Personen am Montagnachmittag sicher in Lampedusa an Land.

Am Ostersonntag gegen 21 Uhr erreichte die Besatzung der SEA-EYE 5 einen Seenotfall, den die Organisation Alarm Phone gemeldet hatte. Wegen des hohen Wellengangs dauerte es mehr als drei Stunden, bis die Besatzung die 76 Menschen von dem doppelstöckigen Holzboot retten konnte. Einige Gerettete gaben an, dass sie vor Durst Meerwasser getrunken hätten. Drei Personen mussten während der weiteren Überfahrt medizinisch überwacht werden.

Dr. Gustav Buescher, Einsatzarzt von German Doctors an Bord der SEA-EYE 5, berichtet: „In der Nacht haben wir 76 Menschen im Mittelmeer auf der SEA-EYE 5 aufgenommen. In der ersten medizinischen Einschätzung zeigten sich bei vielen insbesondere klinische Zeichen von Dehydrierung, Hypothermie, Seekrankheit und Erschöpfung. Einige wenige Fälle benötigten intensivierte medizinische Versorgung in der Krankenstation auf der SEA-EYE 5. Im Vordergrund standen das Monitoring der Vitalwerte, intravenöse Flüssigkeitssubstitution und die Erwärmung. Unter diesen Maßnahmen konnten wir erfreulicherweise in allen Fällen eine adäquate Stabilisierung erreichen. Ich bin froh darüber, dass die schnelle medizinische Versorgung der Patient*innen auf der SEA-EYE 5 die Entwicklung von kritischen Gesundheitszuständen verhindern konnte.“

Die italienischen Behörden wiesen der SEA-EYE 5 zunächst Reggio Calabria als Hafen zu. Nachdem die Einsatzleitung auf die große Belastung für die Geretteten an Bord durch die sich verschlechternden Wetterbedingungen aufmerksam machte, durfte die Besatzung schließlich Lampedusa ansteuern. Am Montag gegen 14:30 Uhr erreichte das Schiff die italienische Insel und brachte die Schutzsuchenden sicher an Land. Eine Person wurde direkt in ein Krankenhaus überstellt, zwei weitere wurden in einem medizinischen Zentrum versorgt.

Eine juristische Stellungnahme bestätigt, dass die CDU-Fraktion in ihrem Antrag finanzielle Unterstützung an die Begehung von Straftaten knüpft. Die Sea-Eye Lokalgruppe Konstanz ruft zur Kundgebung vor dem Landratsamt am 7. April um 13:30 Uhr auf.

Die CDU-Kreistagsfraktion Konstanz sorgt erneut für Aufsehen: Ein Antrag auf der Tagesordnung des Sozialausschusses am 7. April 2025 stellt eine finanzielle Unterstützung der zivilen Seenotrettungsorganisation Sea-Eye nur in Aussicht, wenn diese gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und deutsches Strafrecht verstößt. In dem Dokument fordert die CDU-Fraktion den Verein auf, aus Seenot gerettete Menschen „zurück zu ihrem Ursprung/-Abfahrtsort, die afrikanische Küste bzw. gegebenenfalls die türkische Küste“ zu bringen. Andernfalls solle die finanzielle Unterstützung durch den Landkreis eingestellt werden. 

Sollte Sea-Eye den vorgeschlagenen völkerrechtswidrigen Rückführungen zustimmen, wäre die CDU-Fraktion sogar bereit, über eine Erhöhung der Förderung zu diskutieren. Bereits im Dezember 2024 hatte die CDU-Fraktion einen ähnlichen Antrag gestellt, der jedoch nach heftiger Debatte  im Voraus vertagt wurde.

Prof. Dr. Valentin Schatz, Juniorprofessor für Öffentliches Recht und Europarecht mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit an der Leuphana Universität Lüneburg, hat im Auftrag von Sea-Eye eine rechtliche Stellungnahme erstellt. Darin kommt er zu folgendem Ergebnis: „Die finanzielle Unterstützung der öffentlichen Hand für eine humanitäre Hilfsorganisation wird an die Bedingung geknüpft, dass die Mitglieder dieser Hilfsorganisation menschenrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland unter vorsätzlicher Begehung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten missachten sollen. Dass derartige Kreistagsbeschlüsse in einem Rechtsstaat keinen Platz haben dürfen und ihrerseits rechtswidrig sind, versteht sich von selbst. Die CDU-Fraktion sollte daher von diesem Antrag Abstand nehmen.” 

Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V., kommentiert: „Wir haben dem Landrat und den Mitgliedern des Kreistags bereits mitgeteilt, dass wir die weitere Förderung unter diesen Bedingungen ablehnen. Überdies sind wir davon überzeugt, dass die Menschen im Landkreis Konstanz solche rechtswidrige und unmenschliche Förderbedingungen nicht unterstützen.“

Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention verbieten grundsätzlich die Rückführung von Menschen in Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen drohen. Zudem begeht nach § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB eine Straftat, wer vorsätzlich einen Menschen in eine hilflose Lage versetzt und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt. Bei pauschalen Rückführungen von Menschen ist regelmäßig mit solchen Gefahren zu rechnen. Erst im Februar diesen Jahres hat das oberste italienische Berufungsgericht die Übergabe von Menschen an die sogenannte libysche Küstenwache als Straftat eingestuft, da Libyen aufgrund schwerer Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Vergewaltigung und Mord kein sicherer Ort sei. Daneben schreibt das Internationale Übereinkommen von 1979 zur Seenotrettung vor, dass Menschen in Seenot nicht nur gerettet und medizinisch erstversorgt, sondern auch an einen sicheren Ort („place of safety“) gebracht werden müssen. Die Auswahl dieses sicheren Ortes obliegt normalerweise nicht dem rettenden Schiff, sondern wird von einer staatlichen Seenotleitstelle getroffen, an deren Weisungen sich das Schiff zu halten hat. Andernfalls begeht es nach deutschem Recht eine Ordnungswidrigkeit.

Im gemeinsamen Einsatz mit Sea-Watch brachte die SEA-EYE 4 bei 4 Rettungen 122 Menschen in Sicherheit. Die SEA-EYE 5 rettete unter extremen Wetterbedingungen 56 Menschen.

Zwischen Freitagabend, 7. März, und Sonntagmorgen, 9. März, reagierte die Crew der SEA-EYE 4 auf insgesamt vier Notrufe. Bei den Rettungsaktionen nahm die Besatzung, bestehend aus Mitgliedern von Sea-Watch und Sea-Eye, 122 Menschen in Seenot an Bord. Das Schiff ist nun auf dem Weg nach Vibo Valencia, nachdem die italienischen Behörden den rund 460 Kilometer entfernten Hafen zugewiesen haben. Die Rettung erfolgte in einem gemeinsamen Einsatz der beiden Organisationen – bereits am 22. Februar hatte die gleiche Crew 41 Menschen gerettet und in Neapel an Land gebracht.

In der Nacht von Sonntag auf Montag rettete die Besatzung der SEA-EYE 5 zudem 56 Personen aus einem Schlauchboot. Unter den Menschen befand sich auch ein drei Tage altes Baby. Die Schutzsuchenden waren bei starkem Wind und hohem Wellengang in Seenot geraten. Aufgrund der schwierigen Wetterbedingungen dauerte der Einsatz über 2 Stunden; gegen 03:00 Uhr konnte die Crew dann alle Personen sicher an Bord der SEA-EYE 5 bringen. Für das Baby und seine Familie wurde eine medizinische Evakuierung vor bzw. auf Lampedusa an die italienische Küstenwache organisiert.

„Heute Morgen um 3 Uhr haben wir 56 Menschen an Bord der SEA-EYE 5 genommen. Sie waren mindestens 12 Stunden auf einem Schlauchboot unterwegs. Sie waren durchnässt, seekrank und dehydriert. Viele waren schwach und erschöpft. Unter ihnen war auch ein drei Tage altes Baby, das wegen einer Infektion behandelt und evakuiert werden musste“, erklärt Patricia Darlington, Einsatzärztin von German Doctors e. V. an Bord der SEA-EYE 5.

Finanziert wurde der Einsatz der SEA-EYE 5 unter anderem von der UNO-Flüchtlingshilfe.

TRIGGER-WARNUNG: In diesem Text geht es um sexuelle und sexualisierte Gewalt sowie um Diskriminierungserfahrungen.

Vor fast vier Jahren habe ich eine der denkwürdigsten Erfahrungen meiner journalistischen Laufbahn gemacht: Ich war Teil der Crew auf der SEA-EYE 4, um an ihrer ersten Rettungsmission im Mittelmeer teilzunehmen.

Es war eine lange, anstrengende und dramatische Mission, bei der Sea-Eye 408 Menschen rettete, darunter 150 Kinder. Die meisten von ihnen waren verzweifelt und monatelang von sozialen Kontakten abgeschnitten, während sie in libyschen Gefangenenlagern festgehalten wurden.

Wir haben auch fünf schwangere Frauen gerettet, von denen drei in Libyen vergewaltigt worden waren. Als Journalistin, die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, habe ich ihren Geschichten besondere Aufmerksamkeit geschenkt und mich gefragt, wie sich der Stress der Mütter auf die Babys auswirken würde, die auf einem Kontinent geboren werden, der sie zurückweist und ertrinken lässt.

Als wir im Juni 2021 in Sizilien an Land gingen, war es ein heißer Sommertag und wir waren überglücklich, dass alle die Rettungsaktion unversehrt überstanden hatten.

SEA-EYE 4 Rescue

Nur einen Monat später beschloss ich, nach Frankreich zu reisen, wo einige der französischsprachigen Geretteten Zuflucht gesucht hatten. Ich wollte dokumentieren, wie sich ihre Geschichten in Europa weiterentwickeln würden.

Zuerst traf ich Hawa (Name geändert), eine offenherzige 21-jährige Frau aus Mali, die im dritten Monat schwanger war, als wir sie retteten. Sie reiste allein und suchte in Europa eine Arbeit, um ihre Mutter zu unterstützen, die an einer schweren Krankheit litt und in Armut lebte. 

Hawas Schwangerschaft war die Folge einer brutalen Vergewaltigung in einem libyschen Gefangenenlager, wie sie mir erzählte. „Wenn die Männer in der Haftanstalt dich vergewaltigen, sind sie meistens zu dritt“, erzählte sie uns auf dem Boot, „einer vergewaltigt dich, während der zweite eine Waffe auf dich richtet. Und der dritte filmt das Ganze.“

Wir beschlossen, uns in Paris zu treffen. Wie sie mir erzählte, lebte sie hier, nachdem sie eine Aufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Sizilien verlassen hatte, wo sie mit den anderen Geretteten von Bord gegangen war. Als ich sie am Tag des Treffens anrief, weigerte sie sich jedoch, mir ihre neue Adresse zu nennen. Überrascht fragte ich sie nach dem Grund. Nach einem langen Telefongespräch brach schließlich ihre Stimme und sie erzählte mir die Wahrheit: Nachdem sie Italien verlassen hatte, war sie als Obdachlose auf den Straßen von Paris gelandet. „Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte, also rief ich meine Mutter aus der Pariser Metro an und weinte“, erzählte sie mir. „Ein anderer Mann aus Mali hörte mich auf Bambara sprechen und bot mir an, mich für die Nacht aufzunehmen.”

Als wir uns schließlich trafen, wurde mir klar, dass sie nicht nur eine Unterkunft suchte, sondern auch dringend medizinische Hilfe benötigte. Sie hatte fünf Euro in der Tasche und klagte über gynäkologische Probleme mit unerträglichen Schmerzen und Blutungen. Sie war verwirrt und benommen, wahrscheinlich wegen der Beschwerden. Seit Tagen hatte sie nichts gegessen.

Ich brachte sie sofort zu einer Hilfsorganisation, die Geflüchtete medizinisch versorgt. Nach der medizinischen Untersuchung stellte sich heraus, dass sie kurz nach ihrer Rettung eine Fehlgeburt erlitten hatte. Wahrscheinlich litt sie an einer Infektion, die ihre Genitalverstümmelung verschlimmerte, die vermutlich mit den zahlreichen brutalen Vergewaltigungen zusammenhing, denen sie in Mali ausgesetzt war. (Sie gestattete mir, über das Thema Genitalverstümmelung zu schreiben, um das Bewusstsein für diese schreckliche Praxis zu schärfen, die in vielen afrikanischen Ländern immer noch praktiziert wird.) Es stellte sich heraus, dass sie auch Diabetes hatte.

SEA-EYE 4 Rescue

Die Ärztin der Wohltätigkeitsorganisation riet mir, sie sofort in die Notaufnahme zu bringen, da ihr Blutzuckerspiegel sehr niedrig war. Sie schrieb uns einen Überweisungsschein und bat mich, zum nächstgelegenen Krankenhaus zu fahren, das Menschen aufnimmt, die keinen Zugang zu öffentlichen Geldern haben. Als wir im Krankenhaus ankamen, musste ich auf das Personal einreden, um sicherzustellen, dass sie behandelt wurde. „Wenn sie keinen Ausweis hat, können wir nichts für sie tun“, beschimpfte mich die Person am Empfang. Hawa war verängstigt und konnte kein Wort sagen, obwohl sie fließend Französisch sprach. „Ich war Freiwillige auf dem Schiff, das sie gerettet hat, als sie mitten im Mittelmeer fast ertrunken wäre, und sie ist krank“, schrie ich. Das war alles, was es brauchte, damit die Mediziner*innen endlich Verständnis zeigten und beschlossen, sie aufzunehmen. 

Ich wartete stundenlang mit Hawa in der Notaufnahme. Die Ärzt*innen behandelten sie wegen Diabetes, unternahmen aber nichts gegen die Folgen ihrer Fehlgeburt, ihre Blutungen oder ihre Genitalverstümmelung, obwohl ich ihnen sagte, dass sie wahrscheinlich einem ernsthaften Gesundheitsrisiko ausgesetzt ist. (Bis heute bin ich schockiert: Als Weiße europäische Frau kann ich mir nicht vorstellen, dass mir das passieren könnte. Wenn ich nach einer Fehlgeburt blutend in die Notaufnahme käme, würde man mich nie ignorieren oder mir sagen, dass es nicht so dringend sei. Aber Hawa wurde nur wegen ihres Blutzuckers behandelt.)

SEA-EYE 4 Rescue

Als sie den Untersuchungsraum verließ, schien sie ein anderer Mensch zu sein: Ihr war nicht mehr schwindelig, sie erschien weder schüchtern noch verwirrt. Die Diabetes-Medikamente wirkten. Der Arzt fragte sie, wann sie das letzte Mal Zugang zu Insulin gehabt habe – sie erinnerte sich, dass es in Mali gewesen sei, vor fünf oder sechs Monaten. Es war schwer, sich vorzustellen, wie viele körperliche Schmerzen sie ertragen musste. Ich begleitete sie zu dem Mann, der ihr in der Pariser Metro geholfen hatte. Sie sagte mir, dass sie vorerst bei ihm bleiben würde. Ich sollte mir keine Sorgen um sie machen.

Einen Monat nach unserem Treffen in der Notaufnahme fuhr ich erneut nach Frankreich, diesmal nach Lyon. Hawa war in eine öffentliche Unterkunft für Asylbewerber*innen verlegt worden, während sie auf die Bearbeitung ihres Asylantrags wartete. An diesem Tag aßen wir zusammen Pizza und sprachen über ihr Leben in Frankreich. Ich bemerkte, dass sie sich falsche Wimpern gekauft hatte.

Ich habe nie erfahren, ob sie in Frankreich Asyl bekommen hat. Obwohl sie sporadisch mit mir in Kontakt blieb, war dieser Tag in Lyon das letzte Mal, dass ich sie sah, bevor sie ihre Konten in den sozialen Medien löschte und ihre Telefonnummer änderte.

Hawas Geschichte ist eine Geschichte des Überlebens. Wir danken ihr, dass sie sie mit uns geteilt hat.


Über Sara Cincurova

Sara Cincurova ist eine freiberufliche Menschenrechtsjournalistin. Sie wurde in der Slowakei geboren und lebt aktuell in der Ukraine. Ihre Schwerpunkte sind Migration, Konflikte, Menschenrechte, Außenpolitik, humanitäre Fragen und Frauenrechte. Ihre Artikel erschienen unter anderem in der New York Times, dem Guardian, BBC News und dem Spiegel. 2021 war sie als Journalistin an Bord des Rettungsschiffs SEA-EYE 4 im Mittelmeer unterwegs. Während dieser Mission rettete die Crew 408 Menschen vor dem Ertrinken.

Portrait Sara Cincurova

Unser Rettungskreuzer SEA-EYE 5 ist auf der tödlichsten Fluchtroute der Welt im Einsatz. Unterstütze jetzt seine Missionen und werde 1 von 3.000 Schiffspat*innen.

30.411 Schweigeminuten. Jede einzelne für ein verlorenes Leben.

Ab dem 24. Februar entsteht im alten Münchner Gasteig, Europas größtem Kulturzentrum, ein besonderer „Raum der Stille“. 21 Tage lang wird hier der 30.411 Menschen gedacht, die seit 2014 auf der Flucht über das Mittelmeer gestorben sind oder als vermisst gelten. Die zivile Seenotrettungsorganisation Sea-Eye e.V. möchte mit dieser Installation auf das fortwährende Sterben im Mittelmeer aufmerksam machen.

Das Mittelmeer ist eine der gefährlichsten und tödlichsten Fluchtrouten der Welt. Seit 2014 haben hier, laut offiziellen Zahlen des europäischen Netzwerks „UNITED for Intercultural Action“, 30.411 Menschen ihr Leben verloren. Die Dunkelziffer ist vermutlich weitaus höher. Viele der Toten und Vermissten wurden namentlich erfasst und ihr Schicksal dokumentiert. Doch die meisten starben anonym – wobei die Familien und Hinterbliebenen bis heute unter ihrem Verlust leiden.

Ein stilles Gedenken – vor Ort und digital
Jede der 30.411 Schweigeminuten in diesem Raum ist einer verstorbenen Person gewidmet. Das Gedenken wird von einer in Echtzeit generierten Unterwasser-Animation begleitet, die mithilfe künstlicher Intelligenz personalisiert wird und sich an die Tageszeit sowie die Lichtverhältnisse in München anpasst. Die einminütigen Videos erzählen die Hintergründe einzelner Fluchtschicksale und machen die Tragödie sichtbar.

Für Besucher*innen des alten Gasteigs ist der „Raum der Stille“ ab dem 24. Februar kostenfrei zugänglich. Um das Gedenken über den physischen Raum hinaus zu tragen, wird die gesamte Aktion per Live-Stream auf www.21TageStille.de übertragen.

Konstanze Schön, Pressesprecherin bei Sea-Eye: „Für viele ist die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer leider zur Normalität geworden. Umso wichtiger ist es, dass wir uns der Schicksale der Menschen bewusst werden, die auf der Suche nach Schutz gestorben sind, und erkennen, dass wir als Gesellschaft die Menschenrechte – allen voran das Recht auf Leben – wieder in den Mittelpunkt aller politischen Entscheidungen stellen müssen. Es ist die Aufgabe der EU und ihrer Mitgliedstaaten, endlich menschenrechtsbasierte Lösungen zu finden und eine staatlich organisierte Seenotrettung zu etablieren, die das Sterben im Mittelmeer beendet.“

Für die Idee zeichnet sich die Agentur thjnk Germany verantwortlich, die die Aktion mit einer crossmedialen Kampagne in TV und OOH begleitet.

Die Seenotrettungsorganisationen Sea-Eye e.V. und Sea-Watch e.V. haben einen gemeinsamen Rettungseinsatz im zentralen Mittelmeer gestartet. Mit dem Rettungsschiff SEA-EYE 4 ist eine 28-köpfige Crew aus Mitgliedern beider Organisationen auf dem Weg an eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt. Eine Woche vor der Bundestagswahl rufen die beiden deutschen Organisationen alle Parteien dazu auf, sichere und legale Fluchtwege zu schaffen.

Die Zusammenarbeit zwischen Sea-Eye und Sea-Watch ist eine Antwort auf das andauernde Sterben im Mittelmeer. Trotz der politischen Widerstände auch in Deutschland, bleiben die Organisationen ihrem Auftrag treu: Menschenleben zu retten und auf die systematische Unterlassung staatlicher Rettungseinsätze aufmerksam zu machen. Der gemeinsame Einsatz ist nicht nur eine Reaktion auf die akute Notlage, sondern auch ein Zeichen der Solidarität. Die europäische Zivilgesellschaft darf nicht zuschauen, wenn Menschen ertrinken.

„Die Zusammenarbeit von Sea-Eye und Sea-Watch ist ein starkes Signal des Zusammenhalts und der Solidarität. In Zeiten von Ausgrenzung, Hass und Hetze kämpfen wir gemeinsam auf einer der tödlichsten Fluchtroute der Welt um jedes Menschenleben. Wir zeigen, dass humanitäre Hilfe keine Grenzen kennt“, erklärt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye.

Auch von Seiten Sea-Watchs wird die Zusammenarbeit als notwendiger Schritt betont: „Jede Kooperation stärkt unseren Einsatz, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Eine Woche vor der Bundestagswahl fordern wir sichere und legale Fluchtwege für alle. Denn Politiker, die nur nach Zäunen schreien, ändern rein gar nichts am Sterben im Mittelmeer“, so Giulia Messmer, Sprecherin von Sea-Watch.

Die SEA-EYE 4 ist ein speziell für Rettungseinsätze umgerüstetes Schiff, das bereits über 3.800 Menschen vor dem Ertrinken bewahrt hat. Der aktuelle Einsatz wird Schutzsuchende sicher an Land bringen und medizinische Erstversorgung leisten. Die Crew besteht aus erfahrenen Seenotretterinnen, Medizinern und technischen Fachkräften.

Unterstützt wird der Einsatz durch das breite Bündnis United4Rescue und die Initiative LeaveNoOneBehind
Trotz internationaler Verpflichtungen zur Seenotrettung wird die zivile Seenotrettung zunehmend durch europäische Staaten behindert. Über 2.300 Menschen sind allein 2024 im Mittelmeer ertrunken. Die Organisationen rufen die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten dazu auf, ihre Blockadehaltung zu beenden und legale sowie sichere Fluchtwege zu schaffen.

Schlamm in den Tiefgaragen, Müllberge auf Fußballplätzen und aufgetürmte Autos: Noch viele Wochen nach der Flutkatastrophe in Spanien sind die Folgen verheerend. Mittendrin: Rund 400 Freiwillige von Sea-Eye und unserer spanischen Partnerorganisation L’Aurora, die seit der Flut Ende Oktober 2024 unermüdlich in der Region Valencia im Einsatz sind. Unsere Bilanz aus 60 Tagen Dauereinsatz im letzten Jahr…

Jeden Tag bereiteten unsere Crew und die ehrenamtlichen Helfer*innen auf der SEA-EYE 4 Essen vor und brachten es zu den Betroffenen: Insgesamt 14.000 Mahlzeiten, 3.000 Sandwiches, 1.000 kg Obst und Gemüse, 7.000 Brote und immer wieder auch besondere Leckereien fanden ihren Weg zu den Menschen. Freiwillige sammelten Trucks voller Spenden, sortierten sie und brachten sie direkt in die betroffenen Viertel. Gespendete Fahrräder wurden repariert, um den Menschen ihre Mobilität zurückzugeben. Auch Schutzsuchende haben wir nicht vergessen: Besonders im nahegelegenen Sagunt unterstützten wir die Menschen, die oft durch das Raster staatlicher Unterstützung fallen.

Zu Silvester brachten die Ehrenamtlichen zusätzlich Weintrauben mit den üblichen Essenslieferungen nach Valencia – um eine besondere spanische Tradition zu ermöglichen. Mit jedem Glockenschlag um Mitternacht wird in Spanien eine Traube gegessen, wobei jeder Bissen einen Wunsch für das neue Jahr symbolisiert: Mögen viele dieser Wünsche in Erfüllung gehen für die Menschen in dieser schwer getroffenen Region, die uns im Hafen von Burriana in der Vergangenheit so viel Solidarität gezeigt haben. 

Unsere 12 Trauben-Neujahrswünsche sind klar: Viel Unterstützung für die Arbeit vor Ort, die wir gemeinsam mit L’Aurora auch nach diesen ersten 60 Tagen Dauereinsatz weiter fortsetzen. Mit einer Spende kannst du dies unterstützen.

Eineinhalb Jahre liegt das Staatsverbrechen nahe Pylos zurück, bei dem über 600 Menschen auf dem Weg nach Europa starben. Trotz der unwiderlegbaren Beweise und der Zeugenaussagen der Überlebenden des Schiffbruchs wurden die für dieses Verbrechen Verantwortlichen immer noch nicht vor Gericht gestellt. Die Täter setzen ihre Arbeit weiterhin ungestraft fort, was nicht nur eine ständige Bedrohung für Menschen auf der Flucht darstellt, sondern auch die Straffreiheit verdeutlicht, die ihnen gewährt wird.

Das staatliche Verbrechen von Pylos war weder Einzelfall noch das letzte seiner Art. Der Schiffbruch ist das Ergebnis der zunehmenden systematischen Gewalt gegen Menschen, die nach Griechenland und in die EU gelangen wollen. Die zunehmende Entmenschlichung dieser Menschen hat zu einem entsetzlichen Zustand geführt: Die repressive Grenzsicherungs- und Militarisierungspolitik der EU bedeutet für die Menschen auf der Flucht noch mehr Gewalt und ständige Verletzungen ihrer Rechte. Pushback-Operationen, willkürliche und langandauernde Inhaftierungen in Haftzentren in Ländern an den europäischen Außengrenzstaaten und die Zusammenarbeit mit autoritären Regimen in Nachbarländern haben zu beispiellosen Zahl von Toten und Vermissten geführt.

Vor eineinhalb Jahren, am 14. Juni 2023, wurde den griechischen Behörden gemeldet, dass das Fischerboot Adriana mit 750 Menschen an Bord in akuter Gefahr sei. Trotzdem verzögerten sie absichtlich jede Rettungsaktion. Zunächst ignorierten die zuständigen Behörden die Notrufe und beobachteten das Boot lediglich, dann versuchten sie, die Adriana aus der griechischen Such- und Rettungszone herauszuschleppen, wodurch sie kenterte. Bei diesem zynischen und tödlichen Vorgehen wollten die Behörden Augenzeugen vermeiden. Sie lehnten nicht nur die Hilfe der EU-Agentur Frontex ab. Sie wiesen auch Handelsschiffe zurück, die Unterstützung hätten leisten können. Nach dem Untergang der Adriana berichteten Überlebende von unbegründeten Verzögerungen bei der Rettung, wodurch letztlich nur 104 Menschen gerettet werden konnten. Statt den Überlebenden zu helfen, gingen die griechischen Behörden sogar einen Schritt weiter und klagten die gerade erst Geretteten unmittelbar wegen “illegaler Einreise” ins Land an. In einem Versuch, den öffentlichen Aufschrei und internationale Verurteilungen abzuwenden, wiesen die Behörden jede Verantwortung für den Tod von über 600 Menschen von sich. Stattdessen beschuldigten sie neun der Überlebenden, sie seien “Schleuser” und für den Schiffsbruch verantwortlich. Diese neun Angeklagten, die selbst Überlebende sind, wurden im Mai 2024 endlich von den griechischen Gerichten freigesprochen. Dennoch bleibt ihnen das Recht auf Entschädigung für fast ein Jahr, das sie zu Unrecht im Gefängnis verbrachten, verwehrt.

Nachdem die griechische Küstenwache sich weigerte, eine interne Untersuchung zu den Handlungen ihrer Führungsebene und Beamten einzuleiten, nahm der europäische Ombudsmann für Griechenland die Sache in die Hand und prüft aus eigenem Antrieb die entsprechenden Staatsakte und -versäumnisse. Nach Strafanzeigen der Überlebenden laufen zudem seit über einem Jahr Ermittlungen zu den Ursachen des Staatsverbrechens. Die hierfür zuständigen Behörden des Marinegerichts Piräus prüfen dabei die strafrechtliche Verantwortung für den Schiffsbruch. Das Ermittlungsverfahren wurde jedoch erst Ende November abgeschlossen. Die Entscheidung, ob gegen die Verantwortlichen Anklage erhoben wird, liegt nun beim Generalstaatsanwalt des Seegerichts.

Die Behandlung der meisten Überlebenden des Schiffsbruchs verstößt auch gegen völkerrechtliche Pflichten des griechischen Staates, einschließlich der Verantwortung, Überlebenden psychosoziale Unterstützung zu gewähren. Nicht nur wurde den meisten der Überlebenden der internationale Schutzstatus verweigert, sie sind auch von Abschiebung bedroht. Gleichzeitig warten viele Familien der Opfer noch immer auf die Rückführung der Leichname ihrer Angehörigen, die bislang nicht stattgefunden hat.

Die Forderung nach Gerechtigkeit für das Staatsverbrechen von Pylos ist das Mindeste, was wir den Opfern des Schiffsbruchs und ihren Angehörigen schulden, ebenso wie den Überlebenden, die unvorstellbare Traumata erlitten haben. Doch es geht um mehr: Es ist ein entscheidender Schritt im Kampf für den Schutz von Migrierenden und ihren Rechten. In einer Zeit, in der europäische Regierungen Diskriminierung, Rassismus und Ausbeutung vorantreiben, erheben wir unsere Stimmen für eine Welt, die von Gerechtigkeit und Solidarität geprägt ist.

Das Staatsverbrechen von Pylos wird weder vergessen noch vergeben werden.

Die unterzeichnenden Organisationen fordern:

  • Eine lückenlose Aufklärung der Ursachen des „Pylos-Schiffsbruchs“ und die Strafverfolgung der tatsächlichen Verantwortlichen.
  • Die Bereitstellung notwendiger psychosozialer Unterstützung und die Gewährung internationalen Schutzes für alle Überlebenden.
  • Ein sofortiges Ende der Kriminalisierung von Migration und der Verfolgung von „Schleuserkriminalität“ als Vorwand für die systematische Inhaftierung von Menschen auf der Flucht.
  • Ein sofortiges Ende der zunehmend tödlichen Grenzgewalt.

Zur Erklärung mit allen unterzeichnenden Organisationen