Satellit

Informationen aus der Satellitenüberwachung führt Frontex in Warschau zusammen.

Teil 4 Frontex perfektioniert die Überwachung aus dem All

Autor: Matthias Monroy

Die Aufnahmen von ihren Flugzeugen, Drohnen und Satelliten speist Frontex in EUROSUR ein. Als europaweites Überwachungssystem trägt es seit 2014 Vorkommnisse an den EU-Außengrenzen zusammen. 

Der wichtigste Knoten dieses Netzwerks befindet sich im Frontex-Hauptquartier in Warschau. Dort werden die Informationen von über 40 Mitarbeiter*innen gesichtet und ausgewertet.

EUROSUR ergänzt das in Warschau geführte „Informationsbild des Grenzvorbereichs“. Damit will Frontex weitab der Festung Europa feststellen, wenn sich Menschen dorthin auf den Weg machen. Im Mittelmeerraum ist dieser „Grenzvorbereich“ laut der Europäischen Kommission mehr als 500 Quadratkilometer groß; er kann sich also bis weit in den afrikanischen Kontinent hinein erstrecken.

Die Grenzagentur ist ständig auf der Suche nach neuen Quellen für dieses „Informationsbild“ und forscht an neuen Technologien. Dazu ist Frontex an Vorhaben beteiligt, die von der Europäischen Kommission aus ihrem milliardenschweren Forschungsrahmenprogramm finanziert werden. An vielen weiteren Programmen fungiert Frontex als Tippgeberin oder testet die neu entwickelten Anwendungen zur Grenzüberwachung und -kontrolle.

Frontex lädt außerdem regelmäßig zu sogenannten „Industrietagen“ nach Warschau. Dort werden hochauflösende Sensortechnik, Kameras mit Muster- und Verhaltenserkennung oder futuristisch anmutende Leitstellen gezeigt, in denen die Informationen verarbeitet werden. Die Hersteller tauschen sich mit Innenministerien und Grenztruppen über die neuen Technologien aus und werden anschließend mit großzügigen Restaurantbesuchen belohnt.

Besonderes Augenmerk legt Frontex auf die verbesserte Überwachung aus dem All. Die Agentur will etwa eine „Lücke“ zwischen Drohnen und Satelliten schließen und testet dazu Plattformen zur Überwachung in der Stratosphäre, also in Höhen über 15 Kilometern. Die Europäische Kommission zahlt dafür 5,8 Millionen Euro an den französischen Rüstungskonzern Thales, der nächstes Jahr einen neuen Stratosphären-Zeppelin zum Erstflug startet und bei dieser Premiere Videobilder zu EUROSUR streamt.

Auch beim Konkurrenten Airbus nutzt Frontex ähnliche Technologien. Um die Erde kreisende Satelliten können nur in Sichtweite Daten zum Boden funken. Für eine stets gewährleistete Verbindung nutzt Frontex deshalb eine „Weltraumdatenautobahn“ aus drei Laser-Satelliten. Damit können Bilder aus dem All nahezu in Echtzeit an jeden Ort der Erde übermittelt werden. Frontex war die erste Kundin dieses milliardenschweren Systems.

Auf Satelliten basiert auch das Automatische Identifikationssystem (AIS), mit dem jedes größere Schiff über UKW-Funkfrequenzen regelmäßig seine Identität, den Standort und das Ziel aussenden muss. Diese Daten sind auch für Frontex interessant. Weil manche Schiffe ihre AIS-Transponder ausschalten, setzt Frontex aber zunehmend auf das Aufspüren von elektromagnetischer Strahlung, wie sie etwa von Funkgeräten oder Mobiltelefonen an Bord von Schiffen ausgesendet wird. Neue miniaturisierte Satelliten und das Unternehmen SpaceX von Elon Musk haben die Systeme jetzt nicht nur für private Anbieter sondern auch Grenzbehörden erschwinglich gemacht. Laut einer offiziellen Seenotmeldung hat Frontex auch das im Februar vor der italienischen Küstenstadt Crotone gesunkene Boot anhand der Satellitentechnik entdeckt.

Jedoch erstickt Frontex regelrecht an den vielen neuen Datenquellen. Deshalb fließen viele weitere Millionen Euro in die Auswertung mit Verfahren der Künstlichen Intelligenz. Frontex hat zur Beschaffung dieser auch von Geheimdiensten eingesetzten Technik Verträge mit der israelischen Firma Windward abgeschlossen. Auf ihrer Webseite wirbt sie mit dem Slogan „Fangen Sie die Bösewichte auf See“.

Die wirklichen „Bösewichte auf See“ sind aber die Frontex-Abteilungen in Warschau, die einem immer weiter wachsenden Markt europäischer Rüstungsfirmen zusätzliche Absatzmärkte eröffnen. Die beschriebenen Anwendungen illustrieren den technischen Machbarkeitswahn, mit dem Frontex die Migrationsabwehr perfektionieren will. Davon profitieren auch europäische Waffenhersteller, die nun eine neue Einheit unter Frontex-Kommando ausrüsten. Von dieser ersten und bislang einzigen bewaffneten EU-Polizeitruppe handelt die nächste Folge.


Der Autor: Matthias Monroy

Matthias Monroy hat viele Jahre im Deutschen Bundestag für einen Abgeordneten zum Thema gearbeitet. Inzwischen ist er Redakteur für Netzpolitik.org und das Neue Deutschland. Monroy arbeitet weiter u.a. zu den Themen Polizeiarbeit in der Europäischen Union, Migrationskontrolle, Internetüberwachung, Satellitenaufklärung und Drohnen.

Frontex arbeitet auch mit der sogenannten libyschen Küstenwache zusammen.

Teil 3 WhatsApp nach Libyen

Autor: Matthias Monroy

Seit 2017 überwacht Frontex das zentrale Mittelmeer mit Chartermaschinen und Drohnen. Für die immer mächtigere Agentur ist dieser neue „Mehrzweck-Flugdienst“ von zentraler Bedeutung.

Denn zeitgleich mit dem Aufbau dieser Luftaufklärung zog Frontex ihre Schiffe aus der Region ab und beendete die mehrjährige Operation „Triton“, in deren Rahmen auch die EU-Mitgliedstaaten Zehntausende Menschen im zentralen Mittelmeer aus Seenot gerettet und nach Italien gebracht haben.

Durch eine Hintertür sorgt Frontex nunmehr dafür, dass die Schutzsuchenden wieder in Nordafrika enden. Dazu informiert sie in zunehmenden Umfang libysche Behörden mit dem Auftrag, die Menschen auf Hoher See aufzugreifen und nach Libyen zurückzubringen. Frontex beruft sich darauf, dass dieses Verfahren international vorgeschrieben ist. Das ist aber nur die halbe Wahrheit.

Wenn Pilot*innen oder Kapitän*innen einen Seenotfall feststellen, müssen sie tatsächlich eine festgelegte Routine befolgen. Zuerst müssen jene Leitstellen für die Seenotrettung (Maritime Rescue Coordination Centre, MRCC) benachrichtigt werden, die für das betroffene Gebiet zuständig sind. So steht es im Internationalen Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS), das seit dem Untergang der Titanic in Kraft ist.

Viele Jahre lang hatte Libyen allerdings keine maritime Rettungsleitstelle eingerichtet. Diese Aufgabe übernahm damals das italienische MRCC in Rom. Menschen, die Frontex oder EU-Mitgliedstaaten im zentralen Mittelmeer gerettet haben, wurden demnach nach Italien oder Malta gebracht.

Damit der neue Frontex-Flugdienst also seine gewünschte Wirkung zur Migrationsabwehr entfalten konnte, griffen die EU-Mitgliedstaaten und die EU-Kommission zu einer List. Parallel zum Start der ersten Frontex-Überwachungsflüge wurde Italiens Innenministerium beauftragt, in Libyen ein MRCC zur Entgegennahme von Frontex-Meldungen einzurichten. Die libysche Küstenwache sollte zudem darin unterstützt werden, bei der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO) eine Seenotrettungszone anzumelden. Dafür wollte die Kommission insgesamt 56 Millionen Euro ausgeben.

Allerdings erfüllt das libysche MRCC die Anforderungen der IMO in keiner Weise: Weder ist es Tag und Nacht erreichbar, das dort abgestellte Personal spricht oft kein Englisch, auch verfügen die Behörden nicht über die nötigen Ambulanzfahrzeuge oder Krankenhausplätze für einen Seenotfall. Inzwischen gilt zudem als gesichert, dass das libysche MRCC allenfalls auf dem Papier existent ist. Das bestätigten die EU-Kommissionder Rat und erst kürzlich Josep Borrell, der Hohe Vertreter der Europäischen Union.

Offenbar ist das angebliche MRCC in Libyen auch für Frontex schwer erreichbar. Die Grenzagentur hat sich deshalb einen kurzen Draht zur dortigen Küstenwache geschaffen. In mehreren Fällen wurde diese statt wie vorgeschrieben über das Navtex-System per WhatsApp informiert, wenn Frontex Geflüchtete auf Hoher See auf dem Weg in die EU entdeckt. Dabei werden auch Fotos der Boote, die mutmaßlich von den Flugzeugen oder Drohnen von Frontex stammen, ausgetauscht.

Die EU-Grenzagentur übernimmt also de facto die Luftaufklärung für die libysche Küstenwache, die darüber selbst nicht verfügt. Diese enge Kooperation sorgt dafür, dass Tausende von Menschen in Lager zurückgebracht werden, in denen sie Misshandlung, Folter und Tod erwarten. Ein eklatanter Bruch des Völkerrechts. Denn Geflüchtete dürfen nicht in Länder gebracht werden, aus denen sie geflohen sind und in denen ihnen Verfolgung droht. So hat es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unter anderem im sogenannten „Fall Hirsi“ von 2012 gegen Italien geurteilt.

Nun will Frontex seine Überwachungsfähigkeiten auch noch verbessern. Neben bemannten und unbemannten Luftfahrzeugen sowie Satelliten sollen zukünftig Videokameras in der Stratosphäre kreisen, ihre Aufnahmen werden mit Künstlicher Intelligenz ausgewertet. Von dieser Technisierung der Migrationsabwehr handelt die nächste Folge.


Der Autor: Matthias Monroy

Matthias Monroy hat viele Jahre im Deutschen Bundestag für einen Abgeordneten zum Thema gearbeitet. Inzwischen ist er Redakteur für Netzpolitik.org und das Neue Deutschland. Monroy arbeitet weiter u.a. zu den Themen Polizeiarbeit in der Europäischen Union, Migrationskontrolle, Internetüberwachung, Satellitenaufklärung und Drohnen.

Die Frontex-Drohnen im Mittelmeer werden von Airbus Bremen geflogen. (Matti BlumeIAI, ILA 2018, Schoenefeld (1X7A6064)CC BY-SA 4.0)

Teil 2 Frontex darf nun selbst gegen Schutzsuchende vorgehen

Autor: Matthias Monroy

Die ersten Frontex-Gesetze haben die Regierungen noch ohne das EU-Parlament beschlossen. Doch auch die 2009 verankerte parlamentarische Kontrolle kann die tödliche europäische Abschottung nicht stoppen – ganz im Gegenteil.

Die erste Frontex-Mission trug den Namen „Hera“ und wurde ab 2006 unter spanischer Leitung zwischen den Kanarischen Inseln und Senegal durchgeführt. Die Grenzüberwachung erfolgte dabei sowohl aus der Luft als auch auf See. Hierfür durften Einheiten der EU-Grenzagentur sogar die Hoheitsgewässer von Mauretanien, Senegal und Marokko befahren – eine bis heute einmalige Erlaubnis durch afrikanische Staaten.

Mit einer neuen Verordnung im Jahr 2007 wurden die Kompetenzen von Frontex maßgeblich erweitert. Die Grenzagentur sollte etwa sogenannte Soforteinsatzteams (RABITs) aufstellen, die über ähnliche operative Befugnisse wie die Beamt*innen des aufnehmenden Mitgliedstaats verfügen. Hierzu gehören Grenzkontrollen und Überwachungsmaßnahmen. Sie sollten in Situationen zum Einsatz kommen, „in denen eine Großzahl von Drittstaatsangehörigen versuchen, illegal die Außengrenzen der Union zu überschreiten“, so die offizielle Formulierung. Der erste Einsatz dieser RABITs erfolgte in Griechenland im Rahmen der Mission „Poseidon“, die bis heute andauert.

Über die Ausweitung des Mandats von Frontex konnten die EU-Staaten – genauso wie über die Gründung der Agentur – anfangs noch allein entscheiden. Erst seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 hat auch das Parlament ein Mitspracherecht. Bis Frontex in einer erneuerten Verordnung neben dem Grenzschutz auch zum Schutz der Grundrechte von Geflüchteten verpflichtet wird, dauerte es weitere zwei Jahre. Auslöser waren Berichte über die Mitwirkung bei völkerrechtswidrigen Zurückweisungen, den sogenannten „Pushbacks“. In der Praxis wirkt die neue Menschenrechtsverpflichtung bis heute nicht, schließlich gibt es zahlreiche belegte Verwicklungen von Frontex in völkerrechtswidrige Zurückweisungen.

2014 stellte sich die EU zur Migrationsabwehr neu auf und Frontex erhielt dabei eine Schlüsselrolle, mit Zustimmung vieler Abgeordneter. Mit der Umbenennung in „Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache“ im Jahr 2016 wurde Frontex erstmals eine ganz direkte Verantwortung für die Überwachung und Kontrolle der europäischen Außengrenzen übertragen. Frontex durfte nun also eigene Ausrüstung anschaffen und begann sofort mit dem Aufbau einer eigenen Luftüberwachung.

Für diesen neuen „Luftüberwachungsdienst“ hat Frontex mittlerweile Leasingverträge über mindestens 200 Millionen Euro abgeschlossen. Die Gelder fließen an private Dienstleister. Die von den Luftfahrzeugen aufgenommenen Videobilder werden in das Frontex-Hauptquartier nach Warschau und zu einzelnen Küstenwachen der Mittelmeeranrainer gestreamt.

Die neuen Mitbestimmungsrechte des Parlamentes nach dem Lissabon-Vertrag haben also zur Verschärfung der Migrationsabwehr von Frontex beigetragen. Davon profitieren Rüstungskonzerne wie etwa Airbus, dessen deutscher Ableger in Bremen die Frontex-Drohnen im Mittelmeer startet und landet. Wie diese Drohnen eingesetzt werden, um Schutzsuchende völkerrechtswidrig nach Libyen zurückzubringen, erklären wir in der nächsten Folge.


Der Autor: Matthias Monroy

Matthias Monroy hat viele Jahre im Deutschen Bundestag für einen Abgeordneten zum Thema gearbeitet. Inzwischen ist er Redakteur für Netzpolitik.org und das Neue Deutschland. Monroy arbeitet weiter u.a. zu den Themen Polizeiarbeit in der Europäischen Union, Migrationskontrolle, Internetüberwachung, Satellitenaufklärung und Drohnen.

Bereits kurz nach der Gründung von Frontex gab es schon Proteste in Warschau. (Noborder NetworkMigrant hunting EU agency – Shut Down FRONTEX Warsaw 2008CC BY 2.0)

Teil 1 – Die Gründung

Autor: Matthias Monroy

Die Entstehung von Frontex ist untrennbar mit dem Schengener Abkommen verbunden. In der ersten Verordnung waren die Aufgaben noch überschaubar und der operative Grenzschutz lag weiterhin nur in nationalstaatlicher Hand.

1995 haben sieben europäische Regierungen im Rahmen des Schengener Abkommens die Personenkontrollen an ihren Binnengrenzen abgeschafft. Quasi als Ausgleich schreibt der Vertrag jedoch gemeinsame Regeln zur Überwachung und Kontrolle der EU-Außengrenzen vor. Das haben die Schengen-Staaten zunächst in multilateralen Maßnahmen versucht. Dieser Ansatz erwies sich jedoch spätestens mit der EU-Erweiterung um neue östliche Nachbarländer als unpraktisch.

Zehn Jahre später, im Januar 2005, nahm deshalb Frontex in Warschau die Arbeit auf. Den Sitz der Agentur hatten die damaligen EU-Staaten nach einem Antrag der polnischen Regierung beschlossen. Im Fokus stand die neue Land-Außengrenze der EU, die sich mit dem Beitritt von sieben osteuropäischen Staaten ab 2004 deutlich nach Osten verschoben hatte.

Frontex ist also untrennbar mit dem Schengener Abkommen verbunden. So zementiert es der Vertrag von Amsterdam, mit dem ein „Raum für Freiheit, Sicherheit und des Rechts“ in die EU-Verträge aufgenommen wurde. Seitdem gehört auch der sogenannte Schengen-Besitzstand zum Rechtsrahmen der EU.

Das bedeutet, dass die EU-Mitglieder alle Entscheidungen zu Frontex treffen dürfen, die anschließend auch von den Nicht-EU-Mitgliedern (aber Schengen-Staaten) Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz umgesetzt werden müssen. Die vier Länder müssen also ohne eigenes Stimmrecht jährliche Budget-Erhöhungen von Frontex mittragen und Personal und Ausrüstung für Operationen bereitstellen.

Das Akronym für Frontex leitet sich von dem französischen Wort für Außengrenzen ab (frontières extérieures). Der offizielle Name lautete damals „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der EU“. Darin steckte eine wichtige Botschaft an die einzelnen Regierungen, die nämlich ihre hoheitlichen Aufgaben – der polizeiliche Grenzschutz gehört dazu – nicht komplett an Brüssel abgeben wollten.

Die Schaffung der EU-Grenzagentur war deshalb ein Kompromiss. Als zwischenstaatliche Einrichtung sollte sie den Schutz der Außengrenzen teilweise europäisieren. Frontex durfte demnach keinesfalls selbst grenzpolizeiliche Operationen durchführen, sondern die Mitgliedstaaten nur darin begleiten und unterstützen.

Die Zurückhaltung der Frontex-Gründerstaaten zeigte sich auch in der Gesetzgebung. In der ersten Verordnung von 2004 waren die darin verankerten Aufgaben noch überschaubar. Insgesamt gab es sechs Aufgabengebiete: Neben der Koordination von gemeinsamen Aktivitäten nationaler Grenzbehörden sollte Frontex den Mitgliedstaaten bei der Ausbildung helfen, Forschungen zur besseren Kontrolle und Überwachung der Außengrenzen durchführen und regelmäßige Lagebilder mit Prognosen zu Migrationsbewegungen erstellen. Meldete ein Mitgliedstaat Bedarf an, konnte Frontex für „verstärkte technische und operative Unterstützung“ sorgen.

Frontex war damals also noch vergleichsweise klein. Doch schon bald war den EU-Staaten das Korsett einer lediglich koordinierenden Agentur zu eng. So begann der Aufstieg von Frontex zu einer immer mächtigeren und weitgehend unkontrollierbaren Einrichtung, den wir in unserer Serie nachzeichnen wollen.


Der Autor: Matthias Monroy

Matthias Monroy hat viele Jahre im Deutschen Bundestag für einen Abgeordneten zum Thema gearbeitet. Inzwischen ist er Redakteur für Netzpolitik.org und das Neue Deutschland. Monroy arbeitet weiter u.a. zu den Themen Polizeiarbeit in der Europäischen Union, Migrationskontrolle, Internetüberwachung, Satellitenaufklärung und Drohnen.

Seenotretter*innen beklagen und betrauern den Tod von drei Menschen.

Am 06.02.2023 erreichte die SEA-EYE 4 mit 105 geretteten Personen sowie zwei Leichen an Bord den Hafen von Neapel. Dort konnten alle 105 Überlebenden sicher an Land gehen, auch die Toten wurden vom Schiff gebracht.

Es war eine schwierige Mission, bei der insgesamt drei Todesfälle zu beklagen sind! In der Nacht vom Donnerstag auf Freitag führte die Crew der SEA-EYE 4 zwei Rettungseinsätze durch. Zwei Menschen konnten nur noch tot geborgen werden. Eine weitere Person verstarb nach einer Notfallevakuierung am Sonntag in einem Krankenhaus an Land. Zuvor musste bereits eine andere Person von Bord der SEA-EYE 4 evakuiert werden, sie wird weiterhin in einem Krankenhaus behandelt. Unter den Toten ist auch eine junge Mutter, deren Baby unter den Überlebenden ist.

Ausschiffung Neapel

Die italienischen Behörden verlängerten das Leiden der Überlebenden, indem sie dem Rettungsschiff den über 480 km entfernten Hafen Neapel zuwiesen. Zuvor hatten die italienischen Behörden sogar den 1000 km entfernten Hafen Pesaro genannt. Für die SEA-EYE 4 wäre ein sizilianischer Hafen deutlich schneller erreichbar gewesen und die Menschen hätten viel schneller Zugang zur benötigten medizinischen Versorgung bekommen.

Die SEA-EYE 4 liegt derzeit noch im Hafen von Neapel, von wo aus sie sich zum nächstmöglichen Zeitpunkt auf den Weg nach Burriana macht. Dort geht das Schiff für Routine-Instandhaltungsarbeiten in die Werft.

Es ist zynisch bei der Zuweisung des Hafens von Neapel von einem Entgegenkommen zu sprechen, nur weil der zunächst zugewiesene Hafen von Pesaro noch weiter entfernt war. Die südsizilianischen Häfen hätten deutlich früher erreicht werden können. Die italienische Regierung muss davon abkehren, die Arbeit von Seenotrettungsorganisationen zu erschweren und so auch das Leid schutzsuchender Menschen zu verlängern. Es müssen alle zur Verfügung stehenden staatlichen und zivilen Ressourcen eingesetzt werden, um möglichst viele Todesfälle zu verhindern. Es ist ein andauerndes Verbrechen gegen die Menschlichkeit”, so Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V.

Ausschiffung Neapel

Insgesamt war es das dramatischste Erlebnis, das ich bisher auf See hatte. Vor allem die Menschen der ersten Rettung waren in einem extrem schlechten Gesundheitszustand, als sie bei uns an Bord ankamen. Sie hatten sechs Tage auf dem Boot verbracht ohne Essen, ohne Trinkwasser. Zwei Leichen wurden an Bord gebracht. Es war für alle sehr erschütternd”, sagt Einsatzärztin Dr. Angelika Leist von German Doctors e.V.

Bei der ersten von zwei Rettungen in der Nacht auf Freitag kam für zwei Menschen jede Hilfe zu spät. Die Crew der SEA-EYE 4 konnte nur noch ihre Leichen bergen, darunter die Mutter eines Babys, welches nun an Bord des Rettungsschiffs versorgt wird.

Es sind dramatische Stunden auf dem zentralen Mittelmeer: In der Nacht von Donnerstag auf Freitag konnte die Crew der SEA-EYE 4 insgesamt 109 Menschen aus Seenot retten, darunter zahlreiche Kinder. Beim ersten Rettungseinsatz konnten zwar 32 Menschen gerettet werden. Überschattet wurde die Rettung jedoch von zwei Todesfällen, die bereits vor Ankunft der SEA-EYE 4 verstorben sind. Eine der verstorbenen Personen hatte die lebensgefährliche Überfahrt mit ihrem Baby angetreten. Direkt im Anschluss machte sich das Rettungsschiff auf den Weg zu einem zweiten Seenotfall.

Rescue

In der Nacht konnten weitere 77 Menschen gerettet werden, darunter auch eine schwangere Frau. Die SEA-EYE 4 ist nun mit insgesamt 109 Überlebenden an Bord auf dem Weg nach Pesaro, der von Italien zugewiesene Hafen liegt rund fünf Tage entfernt. Auf die Anfrage nach einem näher gelegenen Hafen haben die italienischen Behörden bis Freitagmittag nicht reagiert.

Sechs Tage waren die Menschen des ersten Seenotfalls auf einem hochseeuntauglichen Metallboot unterwegs. Entdeckt und gemeldet wurde der Seenotfall durch das zivile Aufklärungsflugzeug Seabird von Sea-Watch e.V. am späten Donnerstagnachmittag. Als einziges Rettungsschiff, welches zu diesem Zeitpunkt im Einsatzgebiet unterwegs war, machte sich die SEA-EYE 4 unmittelbar auf den Weg. Die Anfahrt dauerte insgesamt 6 Stunden. Als die Seenotretter*innen den Seenotfall erreichten, waren zwei der 34 Personen in dem Boot bereits verstorben. Die Sea-Eye-Crew konnte nur noch ihre Leichen bergen.

Rescue

Viele der Überlebenden mussten im Bordkrankenhaus behandelt werden. Nach wie vor ist das medizinische Team am Limit und dabei, mehrere verletzte Personen zu versorgen. Eine Person war in so schlechtem Zustand, dass sie von den maltesischen Behörden mit einem Rettungshubschrauber am Freitagvormittag evakuiert worden ist.

In den vergangenen sechs Jahren kamen wir in mehr als zwei Dutzend Einsätzen immer rechtzeitig, um den Verlust von Menschenleben zu verhindern. Doch dieses Mal kamen wir für zwei Menschen zu spät. Sie waren Europas brutalem Grenzregime sechs Tage ausgeliefert. Das ist unverzeihlich. Eine Mutter verlor ihr Leben noch bevor wir das Boot erreichen konnten. Ein Baby wurde zum Halbwaisen. Ein Mann verlor seine Frau. Wir sind zutiefst bestürzt. Unsere Gedanken sind bei den trauernden Angehörigen der Verstorbenen. Wir bringen die Überlebenden nun in Sicherheit”, so Gorden Isler, Vorsitzender des Sea-Eye e.V.

Refugee child

Die Nachricht, dass unsere Hilfe für zwei Menschen zu spät kam, macht uns tieftraurig und zugleich sehr wütend. Es ist menschenverachtend und beschämend, dass die EU-Mitgliedsstaaten dem Sterben im Mittelmeer seit Jahren tatenlos zusehen. Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen der Gestorbenen, bei den Geretteten, und wir wünschen der Crew auf der SEA-EYE 4, dass sie die Überlebenden stabilisieren und bald in einen sicheren Hafen bringen können“, erklärt Dr. Harald Kischlat, Vorstand des German Doctors e.V. Der Verein stellt regelmäßig ehrenamtliche Schiffsärzt*innen für die Missionen der SEA-EYE 4, so auch auf dieser Mission.

Bereits 33 Tote seit Jahresbeginn

Am Donnerstagvormittag, 26.01.2023, startete die SEA-EYE 4 zu ihrem ersten Rettungseinsatz in 2023. Ermöglicht wurde der inzwischen elfte Einsatz des Bündnisschiffes durch die große Spendenbereitschaft in den vergangenen Wochen und eine Förderung durch das zivile Seenotrettungsbündnis United4Rescue. Die akute Notwendigkeit für Rettungseinsätze ergibt sich bereits mit einem Blick auf die aktuellen Todeszahlen für das laufende Jahr: Insgesamt starben mindestens 33 Menschen im Mittelmeer.

Heute sind schon mehr Menschen an Europas Grenzen ums Leben gekommen, als das neue Jahr Tage hat! Dank der erhöhten Spendenbereitschaft der vergangenen Wochen können wir diesen wichtigen Rettungseinsatz durchführen. Dafür sind wir allen Unterstützer*innen sehr dankbar“, sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e. V. „Die fünf weiteren für 2023 geplanten Rettungsmissionen sind noch nicht sicher finanziert und hängen deshalb am seidenen Faden. Wir sehen schon heute, dass wir auch in 2023 dringend im zentralen Mittelmeer gebraucht werden, weil die EU-Mitgliedsstaaten weiterhin nichts gegen das Sterben an unseren Meeresgrenzen unternehmen.

Es ist wichtig, dass der Einsatz der SEA-EYE 4 wie geplant stattfinden kann. Auch jetzt im Winter fliehen Menschen über das Mittelmeer. Wir freuen uns, dass unser Bündnis konkret dabei helfen kann, Leben zu retten“, sagt Sandra Bils, Vorstandsmitglied von United4Rescue. „Gleichzeitig merken auch wir, dass Menschen zur Zeit weniger spenden. Ob wir retten können oder nicht, darf aber nicht am Geld scheitern. Wenn Einsätze wegen einbrechender Spenden in Gefahr sind, zeigt das erneut: Wir brauchen eine staatliche Seenotrettung!

Zum zweiten Mal als Schiffsarzt an Bord ist die erfahrene German Doctors-Einsatzärztin Dr. Angelika Leist: „Ich engagiere mich in der zivilen Seenotrettung, weil ich es nicht ertragen kann, Fotos von verstorbenen Flüchtlingen zu sehen und weil die offiziellen Stellen sich alle ausgeklinkt haben. Außerdem sind doch die reichen europäischen Länder mitverantwortlich dafür, dass Menschen unter Umständen leben, die sie zwingen, ihre Heimatländer zu verlassen. Ich habe die Hoffnung, dass wir auch auf dieser Mission möglichst viele Menschen retten können.” Die Bonner Hilfsorganisation German Doctors e.V. will auch in 2023 regelmäßig Einsatzärzt*innen auf die Missionen der SEA-EYE 4 entsenden.

Italien greift massiv in die Rechte des Flaggenstaates Deutschland, das Europarecht und Menschenrechtsgarantien ein.

Mit neuen Verhaltensregeln will die italienische Regierung zum Jahresende die Arbeit für zivile Seenotrettungsorganisationen weiter erschweren und greift dabei laut Rechtsexpert*innen aus Sea-Eye’s Legal Team massiv in die Rechte des Flaggenstaates Deutschland, das Europarecht und internationale sowie regionale Menschenrechtsgarantien ein.

Nach der uns vorliegenden Version des Dekrets und einer vorläufigen Einschätzung dessen rechtlichen Aussagegehalts dürfte dieses rechtswidrig sein, insoweit es das Verhalten deutsch beflaggter Schiffe in internationalen Gewässern regeln und bei Einfahrt in das italienische Küstenmeer sanktionieren will. Der Küstenstaat hat keine Regulierungs- und Durchsetzungshoheit betreffend Seenotrettung ausländischer Schiffe jenseits seines Küstenmeers (12 Seemeilen). Italien kann also nicht vorschreiben, wie die Rettungseinsätze in internationalen Gewässern durchzuführen sind, da dies Sache des Flaggenstaates (im Fall von Sea-Eye Deutschland) ist. Auch nach dem Internationalen Seenotrettungsabkommen kann Italien als Küstenstaat (und nur in seiner eigenen Search and Rescue Region) nur koordinieren und Weisungen erteilen, deren Durchsetzung nach internationalem und deutschem Recht dann wiederum Deutschland als dem Flaggenstaat obliegt. Überdies findet sich weder im Internationalen Seenotrettungsabkommen noch in den diesbezüglichen Guidelines der Internationalen Seeschiffahrtsorganisation eine Grundlage für die von Italien geforderten Verhaltensregeln”, sagt Prof. Dr. Valentin Schatz, Mitglied des Sea-Eye Legal Teams.

Italien greift hier also massiv und ohne völkerrechtliche Grundlage in die Navigationsfreiheit Deutschlands aus Artikel 87 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen ein, indem es das Verhalten deutscher Schiffe in internationalen Gewässern regelt und mit Bußgeldern sowie der Beschlagnahme von Schiffen bedroht. Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass Italien bereits im Jahr 2019 in einem Verfahren vor den Internationalen Seegerichtshof in Hamburg (The M/V “Norstar” Case [Panama v. Italy], Judgment of 10 April 2019, paragraph 222) wegen eines ähnlich gelagerten, ungerechtfertigten Eingriffs in Artikel 87 des Seerechtsübereinkommens verurteilt wurde.

Aus der Asylverfahrensrichtlinie ergibt sich, dass die EU-Mitgliedstaaten Informationen zur Asylantragstellung bereitstellen müssen. Das gilt auch an der EU-Grenze. Aber diese Pflicht kann man nicht auf zivile Seenotrettungsorganisationen oder auf die Besatzungen von Rettungsschiffen abwälzen. Vielmehr ist das die Pflicht EU-Küsten- oder des betroffenen EU-Grenzstaates. Ebenso handelt es sich bei der Pflicht zur Durchführung von Asylverfahren um eine küstenstaatliche Verpflichtung”, sagt Prof. Dr. Anuscheh Farahat, Mitglied des Sea-Eye Legal Teams.

Sea-Eye wird keinen illegalen Verhaltensrichtlinien und auch sonst keinen behördlichen Anweisungen folgen, die gegen internationales Recht oder gegen die Gesetze unseres Flaggenstaates verstoßen. In unserem Fall sind das die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland. Wir weisen diesen sogenannten Verhaltenskodex deshalb zurück und befürchten, dass dies zu Konflikten mit den italienischen Behörden führen wird. Wir erwarten deshalb von der Bundesregierung, dass man die Seenotrettungsorganisationen unter deutscher Flagge vor dem rechtswidrigen Verhalten der italienischen Behörden schützt und uns im Konfliktfall entschieden unterstützt. Jede Verzögerung unserer Einsätze gefährdet Menschenleben”, sagt Dr. Annika Fischer, Vorständin bei Sea-Eye e.V.

Erster Rettungseinsatz in 2023 steht wegen Spendeneinbruch auf der Kippe

Am 23.12.2022 erreichte die SEA-EYE 4 mit 108 geflüchteten Menschen den Hafen von Livorno. Drei Menschen mit schweren Verätzungen, die sie sich auf ihrem Boot durch ausgetretenes Benzin zugezogen hatten, mussten direkt vom Schiff in ein Krankenhaus gebracht werden. Am Mittag konnten schließlich alle Menschen das Rettungsschiff verlassen.

Während der Rettungsmission konnte die Crew zwei Seenotfälle finden und alle Menschen retten. Während sowohl die Zusammenarbeit mit anderen NGOs wie Mission Lifeline als auch mit Handelsschiffen wie der MTM SOUTHPORT gut funktionierte, gab es von den zuständigen Rettungsleitstellen keinerlei Unterstützung. Im Gegenteil: Wenn es nach den italienischen und maltesischen Behörden gegangen wäre, würde die SEA-EYE 4 mit deutlich weniger geretteten Menschen in Livorno anlegen. So versuchte die maltesische Rettungsleitstelle aktiv, die zweite Rettung zu verhindern, indem sie Handelsschiffe unter Androhung von Konsequenzen dazu aufforderte, den Seenotfall zu ignorieren.

Ausschiffung in Livorno

Die Hafenzuweisung durch italienische Behörden erfolgte erstmals proaktiv und noch während eines laufenden Rettungseinsatzes.

Es deutet vieles darauf hin, dass es eine neue Strategie der italienischen Behörden ist, so schnell wie möglich Häfen zuzuweisen, die so weit wie möglich entfernt sind. Damit wird versucht Rettungsschiffe so schnell und lange wie möglich aus dem Einsatzgebiet fernzuhalten. Die Strategie ändert sich, doch das Ziel der Behörden bleibt das Selbe: die Rettung von Menschen zu erschweren, um die Zahl der Ankünfte in Europa zu reduzieren”, so Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V.

Ausschiffung in Livorno

In den vergangenen Tagen hat das medizinische Team an Bord alle 108 aus Seenot geretteten Menschen erstversorgt. 20 Geflüchtete litten unter mittleren bis schweren Verätzungen durch ausgetretenes Benzin. Drei besonders schwere Fälle mussten direkt vom Schiff ins Krankenhaus gebracht werden. Ich bin froh, dass alle Geretteten nun an Land und in Sicherheit sind”, bilanziert Einsatzärztin Nour Hanna von German Doctors e.V.

Ausschiffung in Livorno

Im Januar soll die SEA-EYE 4 eigentlich direkt in die nächste Mission aufbrechen. Leider steht die Finanzierung wegen eines Spendeneinbruchs um 23 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf der Kippe. Wir sind deshalb in großer Sorge, im kommenden Jahr weniger Missionen durchführen zu können”, so Isler.

SEA-EYE 4 rettet weitere 45 Menschen aus Seenot und ist jetzt mit 108 Menschen an Bord auf dem Weg nach Livorno.

In der Nacht von Sonntag auf Montag konnte die Crew der SEA-EYE 4 in der maltesischen Such- und Rettungszone 45 weitere Menschen aus Seenot retten, nachdem diese sechs Tage auf hoher See ums Überleben kämpften. Zuvor hatten sowohl Italien als auch Malta aktiv versucht, die Rettung dieser Menschen zu verhindern. So wies Malta zwei Handelsschiffe an, den Fall zu ignorieren und drohte sogar mit Konsequenzen.

Als die italienischen Behörden der SEA-EYE 4 mit zu diesem Zeitpunkt 63 geretteten Menschen an Bord am Samstagnachmittag (17.12.) Livorno als sicheren Hafen zugewiesen hatten, war das Rettungsschiff in die Suche eines weiteren Seenotfalls involviert. 45 Menschen harrten seit Tagen auf einem seeuntauglichen Kunststoffboot aus. Obwohl die italienischen Behörden seit Freitag von dem Fall und der akut lebensbedrohlichen Lage der Menschen wussten, wiesen sie die SEA-EYE 4 an, umgehend nach Livorno zu fahren.

Rettungseinsatz

Da keine anderen Rettungsschiffe in unmittelbarer Nähe waren, blieb die SEA-EYE 4 im Einsatz und suchte weiter nach den Vermissten. Während der 35-stündigen Anfahrt stand die SEA-EYE 4 in Kontakt mit zwei Handelsschiffen, die sich ebenfalls in der maltesischen Such- und Rettungszone befanden und Hilfe zusicherten. Die maltesische Seenotleitstelle allerdings wies beide Schiffe an, ihren regulären Kurs fortzusetzen. Während die NORVIKEN daraufhin die Suche abbrach, blieb die MTM SOUTHPORT vor Ort und beteiligte sich weiter an der Suche.

In einer E-Mail der maltesischen Seenotleitstelle an die MTM SOUTHPORT hieß es, es liege kein Seenotfall vor und eine Rettung der Menschen würde von den maltesischen Behörden als Abfangen auf hoher See betrachtet. Maßnahmen zur Rettung oder immerhin zur Überprüfung des Falls wurden durch Malta zu keinem Zeitpunkt eingeleitet. Stattdessen versuchte die maltesische Seenotleitstelle, die Rettung aktiv zu verhindern. Ein systematisches Vorgehen aus politischem Kalkül, das immer wieder Menschenleben kostet: Der Fall des jungen Mädchens Loujin, die im September in der maltesischen Such- und Rettungszone verdurstete, ist nur ein bekanntes Beispiel der Konsequenzen dieses vorsätzlichen Nichthandelns.

E-Mail von RCC Malta

Dieser Fall zeigt schonungslos auf, dass die unterlassene Hilfeleistung durch maltesische Behörden systematisch ist. Dass Malta in der eigenen Such- und Rettungszone nicht nur keine eigenen Rettungen durchführt, sondern sogar aktiv versucht, Rettungen durch Handelsschiffe zu verhindern, ist ein Skandal!“, sagt Gorden Isler, Vorsitzender von Sea-Eye e.V.

Mit Hilfe der MTM SOUTHPORT konnte die SEA-EYE 4 die 45 Menschen schließlich finden, retten und auf die SEA-EYE 4 evakuieren. Die Strapazen haben deutliche Spuren hinterlassen. Nahezu alle Menschen erlitten Verätzungen durch ausgetretenes Benzin und sind traumatisiert durch die Ereignisse. Insgesamt waren die Menschen sechs Tage auf offener See und mussten um ihr Leben bangen. Die SEA-EYE 4 ist nun auf dem Weg nach Livorno, um dort alle 108 Personen sicher an Land zu bringen. Die Behörden wurden zu jedem Zeitpunkt über den Stand der Rettung und das Vorgehen der SEA-EYE 4 informiert.

Rettungseinsatz

Die Crew ist erschöpft aber glücklich, die Menschen gerettet zu haben. Als erstes müssen wir nun die Kleidung der Geretteten waschen, denn alle waren vollständig von Benzin durchtränkt. Dadurch haben viele Verätzungen erlitten, die auf der Krankenstation behandelt werden müssen. Die Menschen werden lange Zeit brauchen, um sich zu erholen, viele starren fassungslos in die Ferne und taumeln über das Deck“, beschreibt Einsatzleiter Jan Ribbeck die Situation an Bord am Morgen nach der Rettung.

Als Einsatzkoordinatorin habe ich die Geschehnisse von Land aus beobachtet, es war ein Wechselbad der Gefühle: Wir waren so erleichtert, dass Handelsschiffe auf diesen Notruf reagierten, da wir noch zu weit weg waren und kleine Boote wie dieses schnell kentern können. Aber dann mitzuerleben, dass die staatlichen Akteure, die eigentlich Leben retten sollen, den Schiffen, die helfen wollten, anweisen abzudrehen, ist unfassbar. Ich bin froh, dass diesmal niemand sterben musste, aber es gibt andere Fälle, in denen Menschen sterben, nur weil Staaten wie Malta sich weigern, ihnen zu helfen. Das ist ein Skandal, wir sollten alle empört sein!“, so Sophie Weidenhiller, Einsatz-Koordinatorin von Sea-Eye.

Rettungseinsatz