Am 18. Dezember ist der von den Vereinten Nationen ausgerufene Welttag der Migranten. Aus diesem Anlass möchte ich Ihnen eine Urlaubsgeschichte erzählen. Nein, es ist eigentlich keine Urlaubsgeschichte, sondern eine Geschichte, auf die man im Urlaub auf Spiekeroog stößt. Auf dem Weg zum Strand liegt der Kirchhof, sein Name ist für einen Bayern wie mich nicht ganz einfach auszusprechen: Es ist der Drinkeldodenkarkhof, der Kirchhof für Ertrunkene. Hier liegen die Ertrunkenen der gekenterten „Johanne“ begraben.
Das Segelschiff Johanne stach im November 1854 in Bremerhaven in See. Es hatte 216 Auswanderer an Bord, Alleinstehende, Familien mit Kindern und Säuglingen. Die Vollmers und die Friedrichs zum Beispiel. Sie hatten mühsam Geld zusammengekratzt, um an Bord gehen zu können. Auf sie warteten: Enge, Dunkelheit, Seekrankheit, Gestank. Und das andere Ufer: Amerika!
Wenn man über Migration redet, muss man wissen: Jahr für Jahr wanderten damals, Mitte des 19. Jahrhunderts, Hunderttausend und mehr Deutsche in die USA ein; 215.000 waren es 1854, in dem Jahr, in dem die „Johanne“ unterging. New York war damals, nach Berlin und Wien, die Stadt mit den meisten deutschsprachigen Menschen. Dort angekommen, blieben die deutschen Einwanderer am liebsten unter sich: Sie bauten sich ihre eigenen Kirchen, kauften in deutschen Geschäften, lebten in deutschen Vereinen, gingen in deutsche Theater, trugen deutsche Trachten, kochten deutsches Essen und setzten sich gern in den Biergarten. Den eingesessenen puritanischen Amerikanern gefiel das gar nicht. Die feindliche Stimmung wuchs sich aus zum Deutschenhass. Das deutsche Theater in New York wurde angezündet. In Chicago verbot der Bürgermeister, er gehörte zur Partei „Americans only“, den Bierausschank am Sonntag. Viele Dutzend Deutsche wurden verhaftet, weil sie sich nicht daran hielten. Es wurde geschossen.
Das alles erleben die Vollmers und die Friedrichs aber gar nicht mehr. Wer sich aufs Meer begibt, der kommt darauf um. Der Atlantik war ein Massengrab geworden. „Wir werden es schon überleben“ hatten sie geglaubt. Nur weg aus diesem Kartoffelland Deutschland. Sie hatten Geschichten vom freien Leben dort gehört und dass man da sein Glück machen kann. Doch es kam schweres Sturmwetter, sie kenterten. Ein furchtbares Unglück. Die Bewohner eilten zum Strand. Doch sie konnten nichts tun. Ein Rettungsboot gab es nicht. Die Flut hatte den Weg zum Schiff abgeschnitten. Die Spiekerooger hörten die Schreie. Erst bei Ebbe konnten sie helfen. Sie retteten 150 Schiffbrüchige und nahmen sie in ihre 30 Häuser auf. Die vielen Toten, die noch Tage später angespült werden, unter ihnen die Familien Vollmer und Friedrich, bestatteten sie auf jenem Fleck, der nun Drinkeldodenkarkhof heißt.
Das Schicksal der Johanne war damals der Weckruf für den Aufbau einer Seenotrettung. Der 18. Dezember ist der Welttag der Migration. Er erinnert an die Vollmers und Friedrichs von heute, die andere Namen haben, afrikanische, arabische, persische, afghanische – aber dieselben Hoffnungen. Jeden Tag ertrinken vier von ihnen im Mittelmeer.
Der Text erschien erstmals in einem SZ-Video von Heribert Prantl zum Welttag der Migration am Samstag, 18. Dezember 2021.
Der Autor:
Prof. Dr. Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung