Bericht von Bord: Erschütternde Geschehnisse auf der letzten Rettungsmission

Am Morgen des 27. Oktober erreichte ein Notruf die SEA-EYE 4, die zu diesem Zeitpunkt im zentralen Mittelmeer nach Booten in Seenot suchte. Als die Crew den Einsatzort erreichte, war bereits die sogenannte libysche Küstenwache vor Ort. Wie für die aggressiv agierende Miliz üblich, versuchte sie die Crew mit Gewaltandrohungen zu verjagen. Die SEA-EYE 4 blieb jedoch vor Ort, um den flüchtenden Menschen im Notfall helfen und den beabsichtigten illegalen Push-Back dokumentieren zu können.

Dass diese Entscheidung richtig war, zeigte sich, als auf dem Schlauchboot auf einmal Panik ausbrach und die Menschen versuchten vor der sogenannten libyschen Küstenwache zu fliehen. Daraufhin verfolgte das sog. Küstenwachenschiff das überfüllte Boot und führte gefährliche Manöver in unmittelbarer Nähe aus. Dabei stürzten Menschen vom Schlauchboot ins Wasser. Die Crew der SEA-EYE 4 rettete so viele Menschen wie möglich aus dem Schlauchboot und direkt aus dem Wasser.

Joana, Teil des Post Rescue Teams an Bord, hat den Einsatz miterlebt und teilt mit uns ihre Erfahrungen.

Das Schiff der sogenannten libyschen Küstenwache ist sehr dicht an das fahrende Schlauchboot herangefahren. Was hast du in dem Moment gedacht?

Anfangs sah es stark danach aus, dass die sog. libysche Küstenwache die Menschen zurück nach Libyen bringen wird. Zumindest die Personen, die die Geschehnisse, die sich vor unseren Augen abspielten, überleben würden. Die sog. libysche Küstenwache agierte aggressiv, und brachte mit ihren Manövern bewusst Menschenleben in Gefahr.

Überlebende berichteten uns später, dass ihnen gedroht wurde, dass das Schlauchboot zum Kentern gebracht würde, sollten sie den Motor nicht abstellen. Auch wurde uns erzählt, dass die sog. libysche Küstenwache vor Eintreffen der SEA-EYE 4 auf Menschen im Wasser schoss. Dies wäre nicht das erste Mal: derartige Situationen wurden bereits von anderen Seenotrettungsorganisationen dokumentiert.

Wie verlief nun dieser wichtige Einsatz unter den schwierigen Bedingungen – und welche Aufgaben hast du übernommen?

Anfangs habe ich das Geschehen von der Brücke aus filmisch dokumentiert. Als klar wurde, dass Personen aus dem Schlauchboot an Bord unseres Schiffes kommen werden, habe ich mich auf das Hauptdeck begeben. Als Teil des Post Rescue Teams bin ich bei einer Rettung im ersten Schritt für die Registrierung der Menschen, die an Bord kommen, zuständig. Gleichzeitig versuche ich ihnen zu vermitteln, dass sie sich nun in Sicherheit befinden und uns vertrauen können .

Im Fall einer „Mass Casualty“ (Massenfall an Verletzten) werden mir auch andere Aufgaben zuteil, jede helfende Hand wird gebraucht. So habe ich unter anderem geholfen, eine bewusstlose, schwangere Person ins Bordhospital zu tragen. Ich habe hyperventilierende sowie geschwächte Menschen versorgt, Wasser und Rettungsdecken verteilt und weibliche Überlebende beim Duschen unterstützt. Das Duschen war dringend nötig, da die Kleidung der schutzsuchenden Personen in Treibstoff getränkt war. Einige Personen hatten Verbrennungen – sog. fuel burns – durch das Gemisch aus Salzwasser und Treibstoff erlitten.

Drei Menschen an Bord der SEA-EYE 4 schwebten zudem in Lebensgefahr. Wie kann man sich eine derartige Extremsituation an Bord vorstellen?

Das medizinische Team – bestehend aus drei Personen – arbeitete auf Hochtouren. Einer schwangeren Frau ging es nach einem Tag im Bordhospital den Umständen entsprechend wieder gut. Die zweite schwangere Person jedoch benötigte eine schnellstmögliche medizinische Evakuierung, da eine ausreichende Versorgung an Bord der SEA-EYE 4 nicht gewährleistet werden konnte. Es konnten keine Herztöne des ungeborenen Kindes festgestellt werden. Dennoch verweigerten italienische Behörden die Anfragen unserer Einsatzleitung nach einer medizinischen Evakuierung. Stattdessen wurden wir auf libysche Behörden verwiesen.

Während unser medizinisches Team mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln um das Überleben der Mutter und des Ungeborenen kämpfte, wurden wir also angewiesen, die beiden zurück in ein Bürgerkriegsland zu schicken, aus dem sie geflohen waren.


Letzten Endes wurde die Frau erst 17 Stunden später, bei einem nächtlichen Einsatz vor Lampedusa, mit einem unserer Einsatzboote vom medizinischen Team an ein italienisches Ärzt*innen-Team übergeben. Später hat uns die erschütternde Nachricht erreicht, dass das Baby nicht überlebt hat.

Medizinsche Evakuierung

Ihr musstet aus dem Schlauchboot auch vier Tote bergen. Wie geht die Crew an Bord mit den Verstorbenen um?

Es handelte sich um die zweite Rettungsmission mit der SEA-EYE 4, bei der verstorbene Personen geborgen werden mussten. Unser Schiff ist für diesen Fall bisher nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Eine traurige Erkenntnis dieser Mission ist, dass es eines gesonderten Raumes an Bord der SE4 bedarf, der speziell für die Unterbringung der Verstorbenen und einen würdevollen Abschied durch die Angehörigen ausgelegt ist. Denn den aktuellen politischen Missständen und Entwicklungen nach ist davon auszugehen, dass auch in Zukunft schutzsuchende Menschen ihr Leben auf dem Mittelmeer verlieren werden.

Als die SEA-EYE 4 den Hafen von Vibo Valentia erreichte, wurde sie von den italienischen Behörden festgesetzt. Wie fühlt sich das nach so einem Rettungseinsatz an?

Leider hatte ich im Grunde bereits damit gerechnet, denn die willkürlichen Festsetzungen von zivilen Rettungsschiffen durch italienische Behörden sind eine bekannte Vorgehensweise, um die zivile Flotte am Ausführen von Rettungseinsätzen zu hindern. Es handelt sich dabei um eine weitere Form der Kriminalisierung von Flucht. Dass Menschen deshalb sterben, scheint für die Verantwortlichen keine Rolle zu spielen.

Doch nur, weil italienische Behörden ungehindert an diesen Vorgehensweisen festhalten, darf dies niemals zur Normalität werden. Es ist und bleibt unerlässlich, dass wir wütend sind, Widerstand leisten, anprangern und für dringend nötige Veränderung einstehen.

Rückblickend machen mich die Festsetzung und die weiteren Formen der Repression durch die italienischen Behörden auch wütend, nach Ankunft in Vibo Valentia verspürte ich jedoch in erster Linie Traurigkeit. Menschen haben ihre Tochter, Schwester, Frau und ihren Freund verloren. Wurden mit Polizeiverhören und respektlosen körperlichen Untersuchungen in Italien in Empfang genommen. Es wurde über sie, nicht mit ihnen gesprochen. All das, weil sie die Flucht nach Europa gewagt haben. In der Hoffnung, hier Frieden und Sicherheit zu finden.