Verzweiflung, Ratlosigkeit und Wut auf der ALAN KURDI
Und ein Appell an Europa: „Flucht ist ein Menschenrecht“
Die ALAN KURDI wurde nach einer erfolgreichen Rettungsmission im September 2020 auf Sardinien festgesetzt. Bei mehreren Rettungseinsätzen rettete die Crew 133 Menschen, darunter 62 Minderjährige. Daraufhin verweigerten die EU-Staaten die Aufnahme der geretteten Menschen. Erst als die ALAN KURDI Kurs auf ihren Zielhafen Marseille nahm, forderte Italien das Rettungsschiff auf, in den Hafen von Olbia einzulaufen. Daraufhin setzte die italienische Küstenwache das Schiff zum zweiten Mal in 2020 fest. Gegen diesen Schritt hat Sea-Eye im Januar Klage eingereicht und wartet seitdem auf den ersten Gerichtstermin.
Joshua war als erster Offizier bei der Rettungsmission im September dabei und ist auch jetzt wieder auf der ALAN KURDI. Wir haben ihm drei Fragen gestellt:
Wie fühlt es sich an, Nachrichten über ertrunkene und vermisste Menschen im Mittelmeer zu lesen, wenn man sich an Bord eines einsatzfähigen Rettungsschiffs befindet und nicht auslaufen darf?
Es ist schwer, sich von solchen schrecklichen Nachrichten nicht überwältigen zu lassen. Die meisten Emotionen, die aufkommen, sind Verzweiflung, Ratlosigkeit und Wut.
Verzweiflung, weil ich weiß, dass wir sofort die Leinen loswerfen könnten, um Menschen in den Stunden ihrer größten Not beistehen zu können. Ich selber fühle mich machtlos, weil wir ein Spielball innerhalb der europäischen Politik sind. Diese scheint von rassistischen Denkmustern durchzogen zu sein. Anders kann ich mir das Sterben auf dem Mittelmeer nicht erklären.
Ratlosigkeit, weil ich nicht weiß, wann und wie es mit der ALAN KURDI weitergeht. Dieses Schiff ist in den letzten 2 Jahren zu meinem zweiten Zuhause geworden und hat vielen Menschen das Leben gerettet sowie eine Chance auf einen Neuanfang in vermeintlicher Sicherheit ermöglicht.
Wut empfinde ich auf Europa und die heutige Gesellschaft. Ein Europa, das lieber das Risiko eingeht, Menschen ertrinken zu lassen, statt private NICHT-Regierungsorganisationen ihre Arbeit tun zu lassen. Eine Arbeit, die nicht durch private Vereine getätigt werden sollte, sondern in der Verantwortung der EU-Mitgliedsstaaten liegt.
Du hast an sechs Rettungsmissionen im Mittelmeer teilgenommen und mit Menschen gesprochen, die gerade dem sicheren Tod entgangen sind. Diese Menschen hatten versucht, in seenuntauglichen Booten das Mittelmeer zu überqueren, um Gewalt und Folter in Libyen zu entkommen. Wie haben diese Menschen die Zeit auf See in diesen Booten beschrieben?
Als wahr gewordener Albtraum. Mir wurde zum Beispiel davon erzählt, wie ein Boot insgesamt 4 Tage unterwegs war. Ohne Verpflegung, Kommunikationsmöglichkeit oder Sonnenschutz. Als wir die Menschen schließlich durch Zufall gefunden haben, waren viele der 60 Menschen bereits dem Verdursten nahe und kaum noch bei Bewusstsein. Später haben sie uns davon erzählt, dass Haie ihr Boot umkreist haben und Handelsschiffe an ihnen vorbeigefahren sind, ohne Hilfe zu leisten. Das ist etwas, was mir immer wieder berichtet wurde: Unterlassene Hilfeleistung von Handelsschiffen, falsche Versprechungen auf Proviant, Benzin und Kommunikationsmöglichkeiten seitens der libyschen Schleuser und pure Angst ums eigene Überleben.
Obwohl sich die meisten bewusst sind, auf was sie sich einlassen, wenn sie in solch ein Boot steigen, machen sie es jedoch ohne zu zögern, nur um der Hölle auf Erden namens Libyen zu entfliehen. Ich habe Menschen kennengelernt, die bereits mehrfach die Flucht über das Mittelmeer versucht haben und sich damit mehrfach bewusst in Lebensgefahr begeben haben, um in Europa ein bisschen Sicherheit zu finden. Die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, würden lieber sterben, als zurück nach Libyen zu gehen.
Was müssen die EU-Staaten tun, damit keine Menschen mehr über das Mittelmeer fliehen müssen?
Die Balkan Route muss geöffnet werden und alternative sichere Fluchtrouten geschaffen werden.
Eine Einreise per Flugzeug sollte möglich werden, um flüchtenden Personen die Möglichkeit zu geben, in den EU-Ländern ihrer Wahl Asyl zu beantragen.
Das neue EU-Migrations- und Asylpaket sollte dahingehend verändert werden, dass die Asylanträge von Personen geprüft werden, welche die erforderlichen fachlichen Kompetenzen vorweisen können wie Psycholog*innen, Menschenrechtsbeauftragte, Migrationsexpert*innen, Jurist*innen etc.
Ressourcenausbeutung in Ländern des Globalen Südens muss sofort gestoppt werden. Klimakatastrophen und Fluchtbewegungen gehen Hand in Hand. Bekämpft man aktiv den Klimawandel und sorgt für ein nachhaltiges Leben, ist dies auch ein erster Schritt gegen Fluchtbewegungen.
Waffen- und Rüstungsexporte in Krisengebiete müssen umgehend unterbunden und aufs Schärfste überwacht werden.
Die EU muss sich bewusst werden, dass sie für die Fluchtgründe der Menschen eine Mitverantwortung trägt und sie deshalb verpflichtet ist, diese zu bekämpfen. Postkoloniale Strukturen müssen aufgebrochen werden, Chancengleichheit ermöglicht und die Grundrechte von Menschen müssen über dem Wirtschaftswachstum stehen.
Zum Schluss hat Joshua noch einen dringenden Appell an die EU und ihre Mitgliedsstaaten.
Die EU muss Flucht als ein Menschenrecht ansehen und dementsprechend handeln. Schützt die Menschen und nicht die Grenzen!