„Was werden uns unsere Enkel einmal fragen?“

Route 4 - A Dreadful Journey

Das Mennonitische Hilfswerk ist ein langjähriger Partner von Sea-Eye. In den letzten zwei Jahren unterstützte das Mennonitische Hilfswerk die Rettungseinsätze von Sea-Eye mit mehr als 50.000 €. Während dieser Einsätze konnten zahlreiche Menschen aus Seenot gerettet werden. Wir haben Christoph Landes, Vorsitzender des Vorstandes im Mennonitischen Hilfswerk, drei Fragen gestellt. Am Ende stellte jedoch er uns vor eine große Frage.

„Unsere Hilfe ist eine Stimme gegen die Ungerechtigkeit auf der Welt, der viele Menschen ausgesetzt sind.“ Dieser Satz stammt aus dem Selbstverständnis des Mennonitischen Hilfswerks. Worin liegt speziell im Mittelmeer die Ungerechtigkeit, die bereits zu tausenden Toten geführt hat?

Vieles in unserer Welt liegt im Argen. In so vielen Bereichen gibt es Ungerechtigkeit – das hat wahrscheinlich jeder schon mal persönlich erlebt. Und im Großen sehen wir, wie vieles am globalen Miteinander auf Unrecht basiert. Als Christen glauben wir, dass Gott sich seine Welt anders vorgestellt hat. Wir können nicht die ganze Welt ändern, aber mit dem was wir tun, wollen wir Zeichen setzen und dem nachspüren, wie Gott sich seine Welt vorstellt. Dafür setzen wir uns mit Partnern ein.

Das Sterben im Mittelmeer steht leider am Ende einer langen Reihe von Unrecht. Wir können in die Geschichte gehen und an das Unrecht im Kolonialismus denken, wir können an die Ungerechtigkeit im globalen Wirtschaftssystem denken. Wir müssen auf den Klimawandel und Waffenexporte schauen. So viel trägt dazu bei, dass Menschen ihre Heimat verlassen. Aber auch wenn Eltern ihre Kinder drängen, in Europa das Glück zu suchen, oder Schleuser, die sich skrupellos an der Not anderer bereichern. In dieser langen Reihe von Ungerechtigkeit steht für so viele Menschen der Tod im Mittelmeer – oder die Rettung aus Seenot. Als Christ glaube ich nicht, dass Gott will, dass Menschen ertrinken.

Das Mennonitische Hilfswerk unterstützt Projekte auf der ganzen Welt. Erst im Mai haben Sie die Versorgung von 2.500 Kindern in einem Flüchtlingscamp in Malawi (Südostafrika) gesichert. Welche Verantwortung hat aus Ihrer Sicht die Europäische Union für die über 82 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind?

Es ist sehr einfach und hat eine gewisse Logik, die EU für die vielen Flüchtlinge verantwortlich zu machen. Wer ist die EU? Sind es anonyme Organisationen in Brüssel, träge Beamte, Politiker mit Eigeninteressen? Oder sind es wir, die Bürger der EU, die sich auch in der Zivilgesellschaft engagieren?

Ich wünsche mir eine EU, in der es nicht nur um Markt und wirtschaftlichen Erfolg geht – keine Frage, das ist auch wichtig und ein stabilisierender Faktor. Aber Werte wie Menschenwürde, Freiheit, Demokratie oder die Wahrung der Menschenrechte, das sollten eigentlich wichtige Exportgüter der Europäischen Union sein. „Export“ bedeutet, wir Europäer sollten es glaubwürdig leben, auch an unseren Grenzen und darüber hinaus. Damit könnte Einfluss auf Fluchtgründe genommen werden, genauso wie auf teils unzumutbare Bedingungen in Flüchtlingslagern.

Aber es ist auch klar: das würde auch Einfluss auf den individuellen Wohlstand jedes EU-Bürgers haben.

Das Mennonitische Hilfswerkt hat gemeinsam mit Sea-Eye und Boxfish den Dokumentarfilm „Route 4“ produziert. Der Film zeigt bewegende Filmaufnahmen einer Fluchtroute von Westafrika durch die Wüste über Libyen aufs Mittelmeer. Was war Ihre Intention diesen Film über die lebensgefährliche Flucht umzusetzen?

Ein Dokumentarfilm kann Probleme ausführlicher beleuchten als ein kurzer Clip oder ein Artikel. Sorgfältig recherchiertes Material bringt Fakten, die zugegeben auch eine sehr emotionale Wirkung haben. Wenn unser gemeinsames Anliegen ist, die Welt wenigstens etwas zum Guten zu wenden, dann sollten möglichst viele Menschen informiert sein, wie die Welt jetzt ist. Damit kann sich dann jeder entscheiden: Nehme ich das hin, oder will ich dazu beitragen, dass die Welt anders wird?

Mich persönlich beschäftigt ein weiterer Gedanke. Was werden uns unsere Enkel einmal fragen? „Habt ihr davon gewusst?“

„Route 4“ ist eine wichtige Möglichkeit, dass viele Menschen davon wissen können. Bei allen begrenzten Möglichkeiten, die eine Einzelperson hat, will ich nachfolgenden Generationen nicht erzählen, dass mich das gleichgültig gelassen hat. Die Möglichkeiten sich zu engagieren sind vielfältig. Die Nächsten zu lieben – das ist es, wozu uns Gott herausfordert. Und in einer so globalen Welt können diese Nächsten auch in Westafrika sein.

Über Route 4

Über 15 Monate begleitete ein Mediateam die ALAN KURDI während mehrerer Rettungsmissionen. Neben zahlreichen bewegenden Momenten auf See entstand auch Material in Ländern wie Niger, Tunesien, Libyen, Italien und Malta. Der Dokumentarfilm möchte auf von der EU selbsterschaffene Probleme aufmerksam machen. Auf das Leid und die Strapazen, die Menschen auf ihrer Flucht widerfahren, und auf die unglaubliche Arbeit der Seenotrettungsorganisationen, die als einzige die Aufgabe übernehmen, Menschen im Mittelmeer zu retten. Die Premiere ist für November 2021 geplant.

Filmplakat: Route 4 - A Dreadful Journey